Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?. Martin Naumann

Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft? - Martin Naumann


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Deutschland, man hatte hier kein Plus – sondern ein Minuswachstum.

      Endlich! Conrad wechselte zu seinem Schreibtisch. Jetzt musste er sich beeilen, um die Bilder für die Ressorts zusammenzustellen. Er konnte sich viel zu wenig um seine Fotoreporter kümmern, die all das zu bringen hatten, was von den Agenturen nicht zu erwarten war. Ein Betrieb, der, sensationell genug, schwarze Zahlen schrieb, war nicht so interessant wie Randale, in denen rivalisierende Gruppen aufeinander einschlugen, überall da hatte der Bildreporter zu sein, der an seinem Bauch ein Cityrufgerät trug, womit er, wie an einer elektronischen Schnur, an die Redaktion gefesselt war.

      Und der Reporter wollte wissen: „Was passiert, wenn ich bei meiner Freundin bin und das Gerät fängt in der schönsten Minute an zu piepen und sie bekommt auch richtig einen Schreck fürs Leben? Oder wenn ich den Schreck bekomme, wer kommt dann für alles auf, für Schreck und Alimente?“ Ja, das war die Frage, wer kam auf? „Vielleicht eine Versicherung?“, schlug Conrad vor, die versicherten doch alles Mögliche.

      „Und mein Ohr?“, wollte der Polizeireporter wissen, „wer kommt für meine Nervenschäden auf?“ Er schlief immer mit einem Hörer im Ohr, um ja keine Meldung im Polizeifunk zu verpassen, damit der Leser sich dann an dem verbogenen Blech erbauen konnte, froh darüber, dass es ihn diesmal noch nicht erwischt hatte.

      Da klingelte das Telefon, Andreas, sein schnellster Mann rief vom Flughafen an, der große Schlag des Zolls gegen Drogenschmuggel wäre eine Ente, außer einigen tausend Zigaretten wäre nichts gewesen. „Na komm rein“, sagte Conrad und ärgerte sich, verflucht noch mal, das sollte das Titelbild sein. In diesem Augenblick betrat Peter Meisel in Begleitung des geschäftsführenden Redakteurs das Zimmer. Dieser stellte ihn kurz vor, der Kollege wolle sich hier mal ein bisschen umsehen.

      Auch das noch. War er mit dieser Technik schon genug gestraft, so schickten sie ihm zum Überfluss noch diesen Wessi, diesen Herrn Meisel mit seiner Goldbrille auf den Hals. Das würde seinem Tagesprogramm den Rest geben. Und das Schlimmste, er musste die neue Technik auch noch loben, auf die er vorher so geflucht hatte: „Wir sind noch in der Einlaufphase“, sagte er und erklärte ihm kurz das System, die Funksignale, die ankommenden Bilder auf dem Bildschirm, die auf der Festplatte gespeichert würden. Die Platte könne aber nicht alle Bilder des Tages fassen, also müsse ständig ausgewählt werden, die guten auf den Drucker, die schlechten in den elektronischen Papierkorb. „Doch was ist gut und was schlecht? Glauben Sie, um das zu entscheiden, muss ich wissen, wer gerade Dienst hat“, ging Conrad in seiner Erklärung vielleicht schon einen Schritt zu weit. Aber der Wessi nickte, er kannte sich offenbar aus. Höflich interessiert sah er sich um und hörte zu. An der Wand hingen einige Wettersatellitenaufnahmen. Gerade wollte er danach fragen, als Conrad auf die Uhr sah: „Oh, schon zwölf, ich muss zur Mittagssitzung, vielleicht können Sie später noch einmal kommen, falls Sie die Technik interessiert.“ Den Mann war er los. Eilig schob er die bereitgelegten Fotos zusammen – kein Titelbild dabei. Er hetzte über den Gang und kam zu spät. Ganze drei Minuten. Das kommt doch hoffentlich nicht wieder vor? Die hohen Chefs warten zu lassen war beinahe eine Todsünde.

      So hatte Conrad den Wessi bereits vergessen, als dieser sich wieder meldete. Jetzt war auch der Druck etwas geringer und er konnte sich seinem Gast besser widmen.

      „Arbeiten Sie schon lange hier in der Redaktion?“

      Was sollte diese Frage, er fühlte den Hintergedanken und antwortete unbestimmt: „Ja, schon lange.“

      „Als Ressortleiter?“

      „Erst nach der Wende, vorher Fotograf.“

      Conrad gab sich einsilbig, außerdem meldete sich sein knurrender Magen und er sagte: „Irgendetwas muss ich jetzt essen, sonst fall ich um. Haben Sie schon gegessen? Mittagessen gibt es zwar nicht mehr, aber irgendeine Wurst werden sie schon noch haben.“ Da merkte auch Meisel, dass er das Essen völlig vergessen hatte und ging mit in die Kantine, der Saal war leer.

      Als sie sich gegenüber saßen, blickte Conrad seinen Gast prüfend an. Dieser war nicht mehr der Jüngste, aber eine gepflegte Erscheinung, das spärliche Haar korrekt gekämmt. Conrad fuhr sich verstohlen über seine gewiss wieder wirre Haarpracht. Natürlich hatte sein Gast einen Maßanzug an, das sah man sofort, dazu ein zartblaues Oberhemd mit sicher passendem Schlips. Conrad dagegen trug ein offenes Hemd und wollte wenigstens den oberen Knopf schließen, da bemerkte er bei allem Gegensatz in der Kleiderordnung doch eine Gemeinsamkeit und er ließ den Knopf wieder los. Auch sein Gegenüber hatte graue Schläfen. Wer weiß, vielleicht waren sie sogar gleichaltrig. Doch darüber machte er sich keine Gedanken, ihn bewegte auf einmal etwas anderes, er musste diesem Kollegen Meisel schon einmal begegnet sein, aber wann und wo? Aus der Zeit vor der Wende sicher nicht, da war er mit westlichen Journalisten kaum zusammengekommen, wenn, dann zur Messe, aber da benahmen sich die beiden Lager äußerst reserviert, so, als hätte der andere eine ansteckende Krankheit. Außerdem, jeder Kontakt mit westlichen Journalisten konnte von der Stasi beobachtet werden, die dann unangenehme Nachforschungen anstellte. Plötzlich wurde dann eine geplante Reise gestrichen, ohne dass ersichtlich wurde warum. Aber auch die westdeutschen Journalisten hatten hinter jedem Kontaktversuch das Gespenst der Stasi gesehen. Wenn bei einem internationalen Fußballspiel auch westliche Bildreporter in das Stadion kamen, sah man etwas neidisch auf ihre bessere Technik, aber zu Gesprächen kam es kaum, sie waren zugeknöpft, vor allem, wenn man wissen wollte, was so ein Westkollege verdiene, das war ein absolutes Geheimnis.

      Im Nachdenken dehnte sich das Schweigen in die Länge und Meisel suchte einen Anknüpfungspunkt. Die Redakteure waren nicht eben gesprächig gewesen, sie sortierten Agenturtexte, starrten auf die Bildschirme und erweckten mit einsilbigen Antworten den Eindruck von Stress. Er hoffte, der Bildchef sei mitteilsamer, und so sagte er in das Schweigen hinein: „Mein Kompliment, wie Sie die Umstellung vom Blei in die modernste Drucktechnik geschafft haben, das hätte bei uns viel länger gedauert. Technik kann man kaufen, sich umstellen, aber wie ist das hier oben in den Köpfen? Es muss doch schmerzlich sein, wenn Sie erst einer Diktatur das Wort geredet haben und sich nun in Demokratie üben.“

      Nanu, das hatte noch kein Wessi wissen wollen, diese behandelten die Ossis, die für das Geschäft gebraucht wurden, wie rohe Eier. Davon hatte auch der Ministerpräsident bei seinem Besuch nichts wissen wollen. Wende in den Köpfen. Er las ja die Zeitung und wusste, dass er sich auf diese Journalisten verlassen konnte. Er hatte nur gefragt, ob viele Kollegen aus dem Westen in der Redaktion arbeiten würden und auf die Antwort, nur zwei, befriedigt genickt; der Osten wurde mit sich selbst fertig. Später allerdings, im kleinen Kreis, waren die Wessis unter sich. Neben dem Ministerpräsidenten und Chefredakteur stießen noch Geschäftsführer und Personalchef dazu. Der stellvertretende Chef aus dem Osten wurde ausgeladen, die zu besprechende Strategie war nicht für seine Ohren bestimmt.

      Vielleicht waren die Deutschen Ost und West ein bisschen verklemmt im Umgang miteinander. Die Ausländer, die fasziniert auf das Schauspiel Deutsche Wiedervereinigung sahen, waren da kritischer. Conrad hatte verschiedentlich Germanisten aus den nordischen Ländern und Frankreich empfangen, die jedes Mal die gleiche Frage gestellt hatten, ob er sich noch wohl fühle bei dem Kurswechsel. Kunststück, sie wollten ja nicht ins Zeitungsgeschäft einsteigen.

      Was also sollte Meisels Frage? Natürlich war das eine Wende um 170 Grad und natürlich wurden bei den etablierten Zeitungen nur ganz wenige Sündenböcke in die Wüste geschickt, denen es aber jetzt in den Oasen der Werbung auch nicht schlecht ging. Und da Conrad keine große Lust verspürte, sich noch lange mit dem Wessi zu unterhalten, war der Ton, in dem er antwortete, nicht eben der freundlichste: „Sicher ist es schmerzhaft, wenn man an etwas geglaubt hat, das sich dann als Utopie erweist. Doch wer ehrlich mit sich selbst Inventur machen kann, dem ist es auch möglich, ohne Gewissensbisse in eine neue Situation hineinzuwachsen. Wer also seinen Fehler oder auch Irrtum zugibt, ist immer noch besser als der, der niemals etwas falsch gemacht haben will. Und was heißt in Demokratie üben? Vielleicht müssen wir uns alle darin üben?“

      „Na ich weiß nicht, den größten Nachholbedarf haben wohl Sie“, warf Meisel ein.

      „Mag sein“, entgegnete Conrad und setzte den Gedankengang fort: „Auch in einer Diktatur kann es Demokratie geben und in einer Demokratie gibt es Diktatur, vor allem die Diktatur des Geldes. Sie haben


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