Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?. Martin Naumann
„Nein, es geht schon wieder.“
Was aber würde in der Nacht sein, falls es sich wiederholte und niemand da war, der sie beruhigen konnte? Meisel hatte den Hausarzt angerufen, der längst am Ende war mit seinem Latein, aber allein schon durch sein Erscheinen eine Besserung bewirkte. Er könne aber erst nach seiner Sprechstunde kommen.
Doris Meisel aber hatte noch einen Rettungsanker, Sylvia, ihre Freundin.
Meisel hatte mit gewissem Missvergnügen gehört, wie seine Frau die Freundin anrief; sie war auch gleich am Telefon. Freiberuflich müsste man sein, da konnte man bis in den hellen Tag hinein schlafen.
Und er war noch missvergnügter, als er merkte, in welche Richtung das Gespräch lief. Sylvia war wieder einmal solo und in solchen Zeiten brauchte Doris nur eine Einladung anzudeuten, schon war sie da und blieb wie eine Klette hängen. Die Frauen verstanden sich so gut, dass sie keine Geheimnisse voreinander hatten. Manchmal wurde er direkt eifersüchtig auf die Freundin. Aber das war nicht der Grund dafür, dass er Sylvia nicht besonders mochte, nein, sie war knapp an einer Emanze vorbeigeschrammt. Bei ihr hatte er immer das Gefühl, dass sie ihm überlegen sei. Als seine Frau damals schwankte, ob sie den Modeteil eines Magazins übernehmen solle und er schon gesagt hatte, das sei nichts für sie, nur Stress und Ärger, da hatte Sylvia sie bestärkt und recht behalten. Unangenehm, Frauen durften zwar klug sein, aber sonst schutz- und Zuflucht suchend, das stärkte die männliche Eitelkeit und brachte die Überlegenheit, die man im harten Berufskampf der Geschlechter nun einmal brauchte.
Als Sylvia eintraf, hatte sich Doris erholt und begrüßte sie so vergnügt, dass er sich überflüssig vorkam, so überflüssig, dass er im Hotel anrief, sie sollten ihm das Zimmer auf alle Fälle reservieren, es würde spät. Trotz seiner Müdigkeit fuhr er sofort los. Natürlich hätte er unter diesen Umständen die Reise auch verschieben können, aber ablehnen konnte er letztendlich nicht. Er stand ohnehin im Clinch mit seinem Chefredakteur und dem Herausgeber, die ihren Lesern jeden Tag mitteilten, dass sie eine unabhängige Zeitung seien, was sie aber nicht hinderte, die unabhängige Meinung ihrer Mitarbeiter nur begrenzt zu dulden. Und Meisel war manchmal anderer Meinung, aber selbst mit dem stolzen Titel eines Chefreporters konnte er diese nicht immer durchsetzen. Neulich hatte er einen schönen satten Fall an der Angel. Da sollte das Bundesverdienstkreuz an einen erfolgreichen Unternehmer vergeben werden, der ein Imperium aufgebaut hatte, dessen Umsatz sich der Milliardengrenze näherte. Das Fatale daran war, dass er seine Produkte in Fernost orderte, wofür deutsche Betriebe reihenweise Pleite gingen, weil die Arbeiter hierzulande nicht so miserabel bezahlt werden konnten. Und er hatte noch etwas anderes in diesem Zusammenhang verfolgt, den Dominoeffekt auch in der Wirtschaft. Die Textilbetriebe vor die Frage gestellt, Pleite oder billige Arbeitskräfte suchen, entschieden sich für das kleinere Übel und sie investierten in Polen und Ungarn, wo eine Näherin nur ein Fünftel des Lohnes ihrer deutschen Kollegin bekam, die dafür in die Arbeitslosigkeit marschierte.
„Das ist freie Marktwirtschaft, aber muss so etwas unbedingt mit dem Bundesverdienstkreuz belohnt werden?“, hatte er ketzerisch gefragt. Und das war auch noch gedruckt worden, denn der Chefredakteur hatte seinen freien Tag. Andernfalls hätte der Chef das Bundesverdienstkreuz gestrichen, in der Zeitung natürlich.
Der Chefredakteur hatte Meisel auseinandergesetzt, dass er, bei allen Verdiensten im Wirtschaftsjournalismus, hier nicht klar sehe. Wer hier aber nicht klar sah, war der Chefredakteur, denn das war nichts anderes als ruinöser Wettbewerb. Und der Geschäftsführer hatte Meisel gefragt, ob er etwa die Zeitung zugrunde richten wolle, weil eben jener Unternehmer einer ihrer besten Anzeigenkunden sei.
Und so war der Chefreporter Meisel vor einigen Tagen Gegenstand einer Beratung geworden, von der er nichts ahnte. „Ein fähiger Journalist“, wusste der Chefredakteur. „Aber oft eine Spur zu kritisch“, meinte der Verlagsdirektor. „Vielleicht hilft eine Luftveränderung“, sagte der neue Geschäftsführer, der völlig unbelastet von störenden Rücksichtnahmen das Unternehmen stärker in die schwarzen Zahlen dirigieren sollte. Und er hatte auch schon ein Konzept: „Wir müssten den Posten des Chefreporters mit einem jüngeren Kollegen besetzen, der lässt sich besser führen und ist nicht so störrisch wie einer, der glaubt, den Journalismus erfunden zu haben. Und wir sparen eine Menge Gehalt wegen der geringeren Dienstjahre. Dafür könnte Herr Meisel unsere Ostredaktion verstärken als stellvertretender Chefredakteur, bis wir auch dort einen jüngeren gefunden haben. Und dann hätte er sich ja seine Pension verdient“, fügte er wohlwollend hinzu, er war immer für soziale Lösungen.
Der Chefredakteur war diesem neuen Geschäftsführer gegenüber sehr höflich, er zählte innerlich bis zehn, damit ihm kein unbedachtes Wort herausrutschte; denn dieser neue Mann verstand nichts vom Journalismus, er hatte vorher Autos, Waschpulver, vielleicht sogar Käse gemanagt. Dort hatte er Erfolg gehabt und die aufgeschreckten Gesellschafter hatten ihn gerufen, weil ihnen für ein Jahr die Dividende gestrichen worden war. „Ja nun“, sagte der Chefredakteur nicht eben sehr inhaltsreich, „ich würde den Meisel ungern hergeben, aber sollten es die Interessen des Unternehmens erfordern, müsste es wohl sein.“
„Vorläufig ist das erst einmal eine Idee, die hier im Raum bleiben muss“, bemerkte der Geschäftsführer, „das muss ihm schmackhaft gemacht werden, aber den Journalisten möchte ich sehen, der nicht mit dem Teufel paktieren würde, nur um stellvertretender Chefredakteur zu werden und wenn es im Osten ist.“ Er lachte dröhnend. Dabei dachte er, dass er selbst mit dem Teufel paktieren würde, um diesen Geschäftsführer loszuwerden, der immer mehr redaktionellen Platz haben wollte und der sogar Redakteure für Anzeigenkunden einspannte und bei den Texten das ohnehin schon möglichst kleingedruckte Wort „Anzeige“ am liebsten weglassen möchte, wenn er nicht doch ein wenig Respekt vor dem Presserat haben würde. Laut aber sagte er: „Möglicherweise wird er nicht wollen, denn seine Frau macht doch hier dieses Modejournal.“
„Ach was, gerade drüben gibt es in der Mode einen großen Nachholbedarf“, sagte der Geschäftsführer und weil er weitab von einer Konfektionsfigur war, hätte er auch gern einmal in Mode gemacht.
„Wie sollte man jetzt praktisch vorgehen?“, fragte der Verlagsdirektor.
Der Chefredakteur wusste Rat: „Wir bereiten eine Serie über den Aufschwung Ost vor. Bei dieser Gelegenheit kann sich Meisel auch mal in den Ostredaktionen umsehen, vielleicht findet er Geschmack daran. So ein bisschen Pioniergeist hat er.“
„Ja, unbedingt soll er sich umsehen“, warf der Geschäftsführer eifrig ein. Denn immerhin hatte sein Verlag auch etwas von dem Ostkuchen abbekommen, traumhafte Auflage und 125 Millionen Werbeeinnahmen. Aber der Appetit kommt mit dem Essen und die Gesellschafter wollten mehr.
Also erhielt Meisel den Auftrag, sich neben seiner Wirtschaftsreportage auch in östlichen Redaktionsstuben umzusehen, falls die Konkurrenz das zuließ. Um das Anzeigengeschäft soll sich die Geschäftsleitung gefälligst selbst kümmern, dachte er. Dabei war er neugierig, wie die gewendeten Blätter den Spagat zwischen Werbung und redaktionellem Teil verkrafteten und ob sich die Redakteure auch für das Anzeigengeschäft einspannen ließen.
Jetzt also fuhr er dorthin, wo auf den Trümmern des real existierenden Sozialismus die reale freie Marktwirtschaft aufgebaut werden sollte.
Doch wie könnte er seinen Lesern den Stoff anbieten? Eine vertrackte Situation: Alle jammerten über das schöne Geld, das jetzt in dem bodenlosen Fass Ost versickerte. Womöglich wurden damit Arbeitsplätze gesichert, aber jeder gesicherte Arbeitsplatz im Osten gefährdete einen im Westen. Doch es schien, als wäre die Treuhand nicht so schlecht wie ihr Ruf, denn in den Ausschüssen zur Privatisierung hatte immer ein Vorstandsmitglied aus der entsprechenden Branche zu sein. Das waren die Fachleute und die sahen sich dabei einem Dilemma gegenüber: Übernahmen sie den Betrieb, gefährdeten sie ihre angestammten Arbeitsplätze. Das hätte sie zwar nicht übermäßig gestört, wenn im Osten mit Gewinn produziert werden könnte, aber bis dahin war es noch ein weiter, bitterer Weg. Überließen sie aber ausländischen Investoren das Feld, die vielleicht den Ostmarkt im Auge hatten, züchteten sie eine unliebsame Konkurrenz heran. Am besten war Liquidation, die Produktion konnten sie dann mit übernehmen. In dieser Situation wäre es einfacher gewesen, ein Szenarium über den Abschwung zu schreiben.