FLUCHSPUR. Gordon Kies

FLUCHSPUR - Gordon Kies


Скачать книгу
den Hügel hinab. Die vom Führer geforderte, sukzessive Ausrottung des niederen Menschengeschlechts musste vorangetrieben werden. Es galt, der sich nach Stalingrad zurückziehenden und dabei verbrannte Erde zurücklassenden, russischen Armee schnellstmöglich zu folgen. Exekutionen anstatt Verhöre. Verdächtige gab es nicht, nur Schuldige. Es war schließlich Russland, wo die von Männern in ordensbehängten Uniformen geschriebene Haager Landkriegsordnung einen Dreck wert war und das Völkerrecht so eingefroren, wie die russische Schwarzerde unter Großvaters Stiefeln.

      Großvater stieg über eine von Granatsplittern durchtriebene Kinderleiche. Er hatte sich an solche Anblicke gewöhnt. Er hatte schon lange nicht mehr geweint und hätte es jemanden interessiert, Großvater hätte geantwortet, dass er mit Sicherheit keine Tränen mehr in sich habe. Für einen kurzen Moment betrachtete er das viele Blut, das sich deutlich vom Schnee abhob und hätte es ein Jackson Pollock schon zu Ruhm gebracht, hätte Großvater sicher an eines seiner Bilder gedacht. So sah er lediglich die verstörende Realität des Krieges. Großvater schluckte den Klos in seinem Hals hinunter und stapfte weiter durch den Schnee, den Flammenwerfer im Anschlag und bereit, ihn jederzeit willenlos einzusetzen. In den Abdrücken, die seine Stiefel im Schnee hinterließen, sammelte sich Blut. Jenseits der niedergebrannten Hütten hörte er vereinzelte Schüsse. Rauch brannte ihm in den Augen, bissig wie ausgehungerte Hunde. Der Gestank von verbrannter Haut schnürte ihm die Kehle zu. Die Schreie der Überlebenden bohrten sich in seinen Schädel, als wollten sie sein Gehirn zur Detonation bringen. Sie übertönten die Maschinen der Luftwaffe, die hoch oben den Himmel zerschnitten. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und fuhr herum. Eine Frau zog sich mit den Armen über den Schnee und versuchte sich hinter einen eisernen Pflug zu retten. Ihr rechtes Bein war unter dem Kniegelenk abgetrennt, ihr Körper war rohes Fleisch und dort, wo noch Reste der Haut waren, schlug diese Brandblasen. Großvater folgte der Blutspur und ging neben der Frau in die Knie. Einem inneren Impuls folgend, drehte er sie vorsichtig auf den Rücken und legte ihr seine geschundene Hand auf die Stirn. Das Gesicht wies entsetzliche Verbrennung auf. Nur vereinzelt standen noch gekräuselte, graue Haarbüschel auf der verkohlten Kopfhaut. Die Lider der Alten hoben und senkten sich und ihre Augen huschten unruhig umher, während die Pupillen erfolglos versuchten, sich zu justieren. Mit den Fingerspitzen zupfte Großvater die Reste eines Tuches von dem lippenlosen Mund und spähte hinab in das schwarze Loch. Er sah, wie sich das Zäpfchen bewegte und sich der Eingang zur Luftröhre gurgelnd schloss und wieder öffnete. Die Frau begann zu zucken, bäumte sich auf und Großvater merkte, wie sich Finger in seinen Hemdsärmel krallten. Röchelnde Laute drangen an sein Ohr. Ihr Griff wurde intensiver und aus den Lauten wurden Vokale und Konsonanten. Unverständliche Worte drangen aus dem Inneren der Frau, deren starrer Blick nun auf Großvater haftete. Er riss sich los, kam auf die Beine, zog seine Waffe und schoss. Die Augen der Alten schlossen sich für immer. Ohne den Blick von dem Einschussloch oberhalb des rechten Auges abzuwenden, steckte Großvater die noch rauchende Luger in den Halfter. Eine eisige Kälte schlug ihre Reißzähne in seine Eingeweide und ein Schauer durchlief Großvaters Körper von den Zehen bis zur Kopfhaut. Er ertastete den Flammenwerfer und stürmte weiter. Weder bemerkte Großvater den Schmetterling, der sich auf seiner Schulter niederließ, einmal mit den Flügeln schlug und in den Winter entschwand, in dem er gar nicht hätte existieren dürfen, noch das kleine Mädchen, das zur Leiche der Frau krabbelte und den Boden mit ihren Tränen tränkte.

      - Er war glitschig wie ein Aal!- Du warst einfach ungeschickt!

      Großvater saß in seinem Rollstuhl und nickte. Sein Sohn schüttelte protestierend den Kopf. Großmutter hockte im Schaukelstuhl, häkelte und konnte sich ein kurzes Auflachen nicht verkneifen. Vom Kaminsims, in einem Bilderrahmen gefangen, lächelte Uta auf ihren kleinen Ludwig hinab, der in seiner Wiege vor dem Kaminfeuer schlief. Niemand der Anwesenden bemerkte den Funkenflug.

      Der Kessel auf dem Feuer verströmte den Geruch von gekochtem Schweinefleisch. Großvater knurrte der Magen. Außerhalb des Lichtkegels, in der Dunkelheit jenseits eines Panzerwracks, den Blicken der Kameraden entzogen, lagen die Leichen. Fein säuberlich in Reih und Glied, wie es sich für einen Deutschen gehört. Sie waren so abgemagert, dass man lediglich das Fleisch ihrer Gesäßbacken verwerten konnte.

      Marschieren. Frieren. Resignieren. Hungern. Schreien. Beten. Morden. Sterben. Verfluchen. Die Schüsse zerfetzten die unerträgliche Stille, die den Zug seit Stunden begleitete. Nebelschwaden erschwerten die Sicht. Mit jedem Schritt, die sie der Waldgrenze näher gekommen waren, hatte sich das ungute Gefühl in Großvaters Eingeweiden verstärkt. Die psychische Anspannung übertraf die physische Anspannung. Es ist jemandem, der nie an solch einem Wahnsinn teilgenommen hat, schwer zu vermitteln, wie enorm belastend es ist, jeden Moment damit zu rechnen, niedergeschossen zu werden.

      Die russischen Gefangenen marschierten an der Spitze des Zuges. Ein menschliches Schutzschild. Die viel zu kleinen Stiefel, die er einem der Russen abgenommen hatte, quetschten seine Zehen zusammen. Doch dafür waren sie mit Fell gefüttert. Die Moral der Schützendivision lag am Boden, das Fiasko von Stalingrad hatte ihrem ganzen Tun den Sinn genommen. Frustration und Hoffnungslosigkeit lähmten den Männern die Sinne und ihre Entscheidungsfähigkeit. Die 6. Armee war Geschichte und die, die überlebt hatten, befanden sich auf dem Weg in sibirische Gefangenenlager, um dort auf den Tod zu hoffen oder taumelten wie Großvaters Division durchs Nirgendwo. Kraftlose Schritte durch die Verwüstung zurückliegender Schlachten, in denen sich die Deutschen noch auf der Siegerstraße wähnten. Immer wieder schnitten ihnen die Russen den Weg ab und verwickelten sie in dezimierende Kämpfe. Der Westen, das Reich und seine Heimat erschienen Großvater unendlich weit entfernt. Die Russen waren wie Geister, plötzlich waren sie da und erschreckten die Division im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode.

      Feindkontakt! Der Kopf des Russen (aka menschliches Schutzschild) zerplatzte wie eine reife Melone. Großvater schmiss sich zu Boden. Das Pferd, das das Feldgeschütz zog, bäumte sich auf und fiel dann auf die Seite. Der Beschuss war vernichtend. Es gab keine Chance zu entkommen.

      Großvater drückte sein Gesicht in den Dreck, verschränkte die Arme über dem Kopf und betete.

      Die Russen kamen, ihre Stimmen wurden lauter.

      Er wurde hochgerissen.

      Er blickte dem Tod ins Auge.

      Jeder andere hätte es als Pech bezeichnet, aber Ludwig wusste es besser. Im Neonlicht des Krankenhausflurs sah sein kleiner Finger aus wie ein groteskes Fragezeichen ohne Punkt. Sicher, er hätte dem Kerl aus der Reparaturwerkstatt die Schuld geben können, aber er tat es nicht. Er lehnte seinen Kopf gegen die Wand und wartete auf einen Arzt, der ihm seinen Finger wieder in Ordnung bringen würde, wie es schon so oft geschehen war. Siebenundzwanzig. Er überlegte. Nein, Neunundzwanzig. Knochenbrüche zogen sich durch sein Leben, wie bei anderen Leuten Erkältungen. Nicht, dass er keine Erkältungen gehabt hatte, er konnte sie nur nicht mehr zählen, nicht ansatzweise. Ganz zu schweigen von all den anderen Krankheiten. Ludwigs Blick fiel auf eine Broschüre. Lebe gesund, lebe deinen Traum. Er schmunzelte. Das Leben hatte Ludwigs Träumen schon in frühen Jahren die Flügel gestutzt.

      - Herr Fuhrman?

      Ludwig nickte. Der Arzt schaute auf sein Klemmbrett.

      - Hier steht, Sie haben sich ihren kleinen Finger gebrochen.- Ja, richtig.- Wie ist das passiert?- Ein Automechaniker hat etwas zu schnell die Motorhaube geschlossen.

      Der Arzt steckte den Kugelschreiber in die Brusttasche seines Kittels und lächelte.

      - Das nennt man dann wohl Pech. Folgen sie mir, bitte!

      Am liebsten hätte Ludwig diesem Kerl sein überhebliches Lächeln aus dem Gesicht geschlagen, aber dann hätte der Arzt sich nicht nur um einen gebrochenen Finger kümmern müssen, sondern höchstwahrscheinlich auch um eine gebrochene Hand. Ludwig erhob sich und folgte dem Arzt in den Raum, in dem er letzten Monat elf Blutegel von seinem


Скачать книгу