FLUCHSPUR. Gordon Kies

FLUCHSPUR - Gordon Kies


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in einem deutschen Badesee gegeben, aber es gibt immer ein erstes Mal, das wusste Ludwig nur zu gut.

      Vorsichtig bewegte Ludwig den kleinen Finger, den eine Schiene nun in der richtigen Position hielt.

      - In Anbetracht ihrer Krankenakte, muss ich wohl bis bald sagen …

      Ludwig zwang sich zu einem Lächeln.

      Der Bus kam quietschend zum Stehen und Ludwig stieg ein. Die Sommerhitze hatte den Bus in einen Ofen verwandelt, in dem die Gehirne der Fahrgäste auf kleiner Flamme köchelten. Schweiß, Parfum und andere Ausdünstungen verschmolzen zu einem Geruch, der jeder Müllverbrennungsanlage gut zu Gesicht gestanden hätte. Ein Sitzplatz war so unrealistisch wie die Zeitreisemaschine, die sich Ludwig in regelmäßigen Abständen wünschte, um an den Ort zurückzukehren, an dem das Unheil seinen Lauf genommen und sich über die Fuhrmanns gelegt hatte. Der Bus setzte sich ruckelnd in Bewegung und Hände griffen hinauf zu den Halteschlaufen. Ludwig sah Achselhaare und Alterswarzen. Er zog sein Taschentuch aus der Hosentascheund hielt es sich vor Mund und Nase. Sein Penis drückte sich schlaff gegen den Hintern eines fetten Mannes, der es trotz der beklemmenden Enge schaffte, von einem Sandwich abzubeißen. Mayonnaise tropfte von seinem Mundwinkel auf sein nassgeschwitztes Hemd. Der Fette drehte sich um und streifte mit seinem Oberarm Ludwigs Gesicht.

      - Verdammt, passen sie doch auf!- Entschuldigung.

      Schmatzend schlang er den Rest des Sandwichs herunter und drehte sich weiter, bis sein über dem Gürtel hängender Bauch zwischen Ludwig und einer jungen Mutter feststeckte, deren Baby unablässig schrie, als habe es schlimme Koliken. Angewidert versuchte die Mutter sich abzuwenden. Erfolglos. Der Fette hob entschuldigend seine Schultern.

      - Platz da!

      Etwas Spitzes bohrte sich Ludwig in den Rücken. Den Regenschirm wie eine Lanze vor sich her gestreckt, hatte sich eine Hundertjährige eine Gasse durch die Leute gebahnt.

      - Ich muss an der nächsten Haltestelle raus! Machen Sie Platz!

      Ihre Stimme war krächzend und duldete keinen Widerspruch. Empörtes Raunen begleitete ihren Weg zum Ausgang. Ludwig fragte sich, warum um alles in der Welt die Alte einen Regenschirm mit sich führte? Es hatte seit Wochen nicht geregnet und der Wetterdienst prognostizierte auch für die nächsten Tage nichts als Sonne. Meteorologen sprachen von einem Jahrhundertsommer, Bauern von einer Katastrophe. Die Alte steckte fest, die fette Hyäne stellte ein unüberwindbares Hindernis dar.

      - Bewegen Sie ihren fetten Hintern! Ich muss raus!- Ich kann nicht, Sie müssen warten …

      Mit einer nicht für möglich gehaltenen schnellen Bewegung, ansatzlos und doch voller Kraft, nutzte die Alte den zwischen Ludwig und ihr entstandenen Freiraum, um mit ihrem Regenschirm auszuholen. In letzter Sekunde riss Ludwig den Kopf zur Seite und anstatt ihm ein Auge auszustechen, schlitzte ihm die Spitze des Schirms nur die Haut seines rechten Ohres auf. Noch bevor Ludwig schreien oder protestieren konnte, sah sich der Busfahrer gezwungen, mit seinem gesamten Gewicht auf die Bremse zu steigen, um einem unachtsamen Kind nicht das Leben zu nehmen. Im Inneren des Busses fielen Körper übereinander und verschmolzen zu einer sich windenden Masse, aus der Gliedmaßen hervorragten und nach Halt suchten. Das schwarze Kleid der Alten war hochgerutscht und Ludwig lag mit seinem Gesicht zwischen zwei welken Pobacken, die in einem verwaschenen Schlüpfer mit stilisierten, blumigen Ornamenten steckten. Ludwig versuchte sich aufzurichten, aber das von oben drückende Gewicht von zwei Jugendlichen, hielt ihn unten. Übelkeit stieg in ihm auf, wie Kohlensäure in einer geschüttelten Flasche.

      Ludwig betrachtete die Mulde auf der Bettseite seiner Frau. Die Matratze musste einiges ertragen.

      - Ich finde es nicht.

      Die Stimme von Renate drang aus dem Badezimmer zu ihm. Regen prasselte gegen das Fenster und hin und wieder erhellte ein Blitz die Raufasertapete. Ludwig dachte an den Regenschirm der Alten. So viel zu Wetterprognosen …

      - Im Schränkchen hinter dem Mundwasser!

      Renate erschien im Türrahmen und verharrte.

      - Findest du mich fett, Ludwig?

      Er hatte ihr schon unzählige Male auf diese Frage geantwortet.

      - Nein.- Ich bin aber fett!- Nein, bist du nicht.

      Renate war fett. Ihre Frage überflüssig. Warum fragte sie ihn überhaupt? Warum zwang sie ihn zu einer Lüge? Warum war sie so, wie sie war? Warum hatte er sie geheiratet?

      - Wirklich?- Wirklich. Komm jetzt her.

      Sie setzte ihre Kilos in Bewegung, gab ihm das Jod und wälzte sich über ihn hinweg auf ihre Seite des Bettes. Warum hatte er sie noch gleich geheiratet? Er kramte im Archiv seines Gehirns und fand eine Antwort. Zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit hatte sie etwa 30 Kilo weniger gewogen. Auch ihren Charakter konnte man zum Zeitpunkt der Hochzeit nicht als böswillig, egozentrisch, launisch und depressiv bezeichnen. Damals hatte sie einen Job, der sie erfüllte, hatte Zukunftspläne und war fähig, Liebe zu geben. Sie liebte sogar seine Tollpatschigkeit. Als er bei der Hochzeitszeremonie stolperte und auf ihr Kleid trat, konterte sie das Kichern in der Kirche mit einem Lächeln. Als er seinen Job zum ersten Mal verlor, bezeichnete sie es als Pech. Beim zweiten Mal fand sie es weniger witzig und als der Arzt ihnen mitteilte, dass Ludwigs Spermien zu langsam seien, brach für Renate eine Welt zusammen. Ihren Kummer erstickte sie mit Süßem und Fettem. Ludwig war nicht in der Lage ihr zu helfen, sie projizierte all ihre Wut auf ihn und seine Unfähigkeit.

      Warum hatten sie sich nicht scheiden lassen? Weil sie sich tief in ihrem Inneren liebten, sich brauchten? Auf manche Fragen gibt es keine Antworten. Vielleicht war es noch nicht der richtige Augenblick? Vielleicht hatten sie ihn auch schon verpasst? Vielleicht hatte es auch finanzielle Gründe? Was für ihn außer Frage stand, war die Tatsache, dass er für ihren Zustand mitverantwortlich war.

      - Was läuft im Fernsehen?

      Ludwig schmierte etwas Jod auf die Wunde und ein stechender Schmerz durchzuckte sein Ohr.

      - Keine Ahnung … schalte doch mal durch.

      Renate schaltete durch die Programme und blieb bei einer dieser Casting-Shows für Gesangstalente hängen. Ludwig hätte lieber die Reportage über die Massenmorde in Kambodscha gesehen, aber anstatt nach unten ins Wohnzimmer zu gehen, wartete er, bis sie eingeschlafen war. Sie schlief immer beim Fernsehen ein, jedenfalls seitdem sie verheiratet waren. Voller Vorfreude, Reportagen waren seine Passion, schaltete er auf den Kanal, auf dem die Roten Khmer ihr Gemetzel begingen, doch das Unwetter machte ihm ein Strich durch die Rechnung. Der Empfang war gestört. Ludwig schaltete den Fernseher aus und legte die Fernbedienung auf den säuberlich zusammengelegten Stapel seiner Kleidung. Donnergrollen begleitete ihn ins Land der Träume.

      Die Schlange vor dem Kessel wurde von Tag zu Tag kürzer, dennoch fror Großvater und konnte es nicht erwarten, seine Hände um den warmen Teller zu legen. Atemwolken hingen zwischen den Männern. Es gab eine Brühe, nicht mehr als warmes Wasser mit Salz und Gewürz. Dazu eine Kartoffel. Endlich! Die Wärme ließ Großvater seine Fingerkuppen spüren.

      - Bitte … ich verhungere … nur ganz wenig …

      Kraftlose Hände griffen nach Großvaters Beinen. Er blickte auf den Mann hinab. Für Güte gab es hier keinen Platz. Der Mann würde die Nacht ohnehin nicht überstehen. Großvater schüttelte ihn ab und blickte sich nicht mehr um.

      Großvaters Fingernägel kratzten über das Blech des Tellerbodens. Er seufzte, als er sich die Kartoffelkrümel in den Mund schob. Sein Zahnfleisch war wund und schmerzte beim Kauen, dennoch zermahlte er jeden Bissen, bis es nichts mehr zu kauen gab. Er schmeckte den eisernen Geschmack seines Blutes. In der Mitte des Raumes brannte in einem alten Ölfass ein kleines Feuer, malte Formen und Figuren an die Balkendecke und spendete ein wenig Wärme. Der Geruch des nur schwerlich abziehenden Rauches hatte sich in den Kleidern der Gefangenen festgesetzt. Großvater verspürte nach wie vor ein quälendes Hungergefühl. Unweit von ihm weinte ein Kamerad, mehr Junge als Mann, beim Betrachten eines vergilbten Fotos seiner Mutter. Großvater wandte den


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