FLUCHSPUR. Gordon Kies
Ja.- Seit wann?- Seit es so heiß ist.- Ich dachte, du arbeitest in einem dieser großen Elektromärkte.- Schon länger nicht mehr.
Sein Vater litt an Alzheimer. Manchmal fragte er Ludwig nach Mutter und manchmal erkundigte er sich, welchen Bus er nehmen musste, um nach Hause zu kommen. Mittlerweile wohnte sein Vater in einem Seniorenheim und verließ sein Zimmer nur noch, um im Garten auf einer Bank zu sitzen und Spatzen zu füttern. Hin und wieder leistete Ludwig ihm dabei Gesellschaft und sie sprachen über Dinge, an die sich sein Vater wenige Minuten später nicht mehr erinnern konnte. Es gab Momente, da betrachtete Ludwig die Krankheit seines Vaters als Segen, so musste er sich nicht an all die Dinge erinnern, die ihm widerfahren waren. Erstaunlicherweise blieb der Kindstod aus. Mit Vier wurde ihm eine Stecknadel aus dem Oberschenkel entfernt. Mit Sechs die Mandeln. Mit Zehn brach er sich bei einem Sturz vom Fahrrad, den Oberschenkelknochen und musste sechs Monate einen Gips tragen. Zwei Wochen nachdem der Gips entfernt worden war, riss das Seil eines Skilifts, in dem er und sein Vater saßen, um in den Bergen zu wandern. Beide Arme wurden eingegipst. Seine Mutter musste ihm zwei Monate den Hintern abwischen und sein Vater landete im Rollstuhl. Mit Sechzehn biss er sich die Zungenspitze ab. Mit Achtzehn bekam er anstatt des Führerscheins eine ausgeprägte Depression. Mit Dreiundzwanzig heiratete er Maria. Mit Siebenundzwanzig Uta. Bereits fünf Minuten nach der Geburt ließ er Ludwig das erste Mal fallen und war somit zwei Minuten schneller als sein eigener Vater. Mit Dreißig war er arbeitslos und Witwer. Mit Vierzig erkannten die Ärzte eine Tendenz für Alzheimer. Mit Fünfzig war von einem zweiten Frühling weit und breit nichts zu sehen. Mit Sechzig kam er ins Altersheim, Renate wollte es so.
- Tatsächlich?- Ja, schon seit April nicht mehr.- Das ist mir neu, warum hast du mir das nicht gesagt?- Habe ich.- Hast du nicht.
Sein Vater akzeptierte nicht, dass sein Gehirn fehlerhaft arbeitete. Sie hatten sich schon oft deswegen gestritten. Hätte man seinen Vater gefragt, hätte er geantwortet, dass er und sein Sohn sich nie streiten. Ludwig war in diesem Fall der Klügere.
- Dann habe ich es wohl vergessen.- Wie kann man vergessen, seinem Vater zu erzählen, dass man einen neuen Job hat?- Ist doch nicht so wichtig …- Du bist mein Sohn! Alles was du machst, interessiert mich.- Ok.- Also, was soll ich gleich nochmal kaufen?- Eine portable Klimaanlage.- Wozu?- Weil ich sonst gefeuert werde.
Ludwig erklärte seinem Vater die Situation. Schließlich willigte sein Vater ein, da es in seinem Zimmer unangenehm heiß war und erkundigte sich dann nach seiner Frau, die schon seit Jahren tief unter der Erde ruhte. Ludwig wünschte ihm einen schönen Tag und versprach, in den nächsten Tagen vorbeizuschauen. Nachdem er aufgelegt hatte, transferierte er per Onlineüberweisung den Betrag für die Klimaanlage von dem Konto seines Vaters auf das Firmenkonto. Aufgrund der Krankheit seines Vaters hatte er schon seit längerer Zeit eine Vollmacht. Sein Vater wusste nicht einmal mehr, dass er ein Bankkonto besaß, er bezog eine Art Rente, von der per Dauerauftrag ein Teil auf das Konto des Seniorenheims ging. Ludwig schaute auf die Uhr und wählte die Nummer seines einzigen Freundes. Er ließ es lange klingeln, aber Dirk nahm nicht ab. Auch auf dem Handy hatte er keinen Erfolg.
Als die Uhr ihm an diesem Nachmittag erlaubte, Feierabend zu machen, war Ludwig stolzer Besitzer von zwei portablen Klimaanlagen, was bedeutete, dass er die nächsten Wochen praktisch ohne Bezahlung arbeiten würde. Renate hatte ihn angerufen und er hatte einen Termin bei Madame Laluna. Er schaltete den Computer aus und überlegte, ob er auf seinen Boss warten musste. Musste er nicht, denn sein Boss war schon im Anmarsch. Er hörte dessen drohende Stimme im Gang.
- Wenn die Abschlusszahlen in den nächsten Tagen nicht steigen, schmeiß ich euch alle raus! Die Zahlen von heute sind ein Witz! Wir haben sogar jetzt noch dreißig Grad! Ich sollte euch Überstunden schieben lassen! Unbezahlte!
Der Boss trat in Ludwigs Blickfeld und baute sich mit hinter dem Körper verschränkten Armen vor ihm auf. Sein Blick war fordernd und nicht übermäßig freundlich.
- Und, Fuhr … äh …- Man.- Richtig. Also, Fuhrman, wie sieht es aus?- Acht Abschlüsse.- Tatsächlich?- Ja.- Hätte ich nicht gedacht.
Der Boss nickte anerkennend und tippte sich dabei mit dem Zeigefinger gegen die Nasenspitze.
- Dann erwarte ich morgen zehn!
Er drehte sich um und ging. Ludwig folgte ihm ein paar Minuten später.
- Wie war dein Tag?- Gut.- Hast du an die Tampons gedacht?- Natürlich.
Er nahm die Tampon-Packung aus der Aktentasche und reichte sie Renate, die in der Küche stand und mit dem Dosenöffner eine Dose junges Gemüse öffnete.
- Danke, leg sie auf den Tisch.- Was hast du gemacht?- Nicht viel. Geputzt und so.
Ludwig schaute rüber in das Wohnzimmer. Die Kissen auf der Couch waren zusammengedrückt und auf dem Tisch lag eine Tüte Chips. Er hätte zum Fernseher gehen können, um festzustellen, dass er noch warm war. Er wusste es auch so. Die Zeiten, in denen er Renate jetzt zur Rede gestellt hätte, waren vorbei. Themawechsel.
- Was gibt es zu essen?- Fleisch, Kartoffeln und Gemüse. Braune Soße.- Schön.
Der Schrei ließ Ludwig zusammenzucken.
- Was ist denn los, verdammt nochmal!- Die Tampons!- Was ist damit?- Die sind Super!
Ludwig verstand nicht.
- Und warum schreist du dann so?- Ich habe Normal! Normal!
Ludwig zweifelte für einen kurzen Moment am geistigen Gesundheitszustand seiner Frau.
- Was redest du da?- Du hältst mich für eine fette, ausgeleierte Kuh!
Ludwig schüttelte verständnislos den Kopf.
- Ich …- Arsch!
Renate knallte den Dosenöffner auf die Arbeitsplatte und schoss an Ludwig vorbei. Sie knallte die Tür und polterte die Treppe nach oben. Wieder knallte eine Tür und dann hörte Ludwig durch die Zimmerdecke, wie sich seine Frau auf das Bett schmiss.
- Was war das denn jetzt?
Er erhielt keine Antwort. Bis auf die paar Sekunden, in denen seine Frau an den Kühlschrank stürmte und ihn durch die Durchreiche beschimpfte, bekam er sie für den Rest des Abends nicht mehr zu sehen. Im Fernsehen gab es eine Reportage über das Vomitorium im antiken Rom. Während er das zähe Fleisch in mundgerechte Stücke schnitt und ihm die Erbsen und Möhren von der Gabel fielen, sah er zu, wie Schauspieler in Gewändern und Sandalen künstliches Erbrochenes von sich gaben, um danach ihr opulentes Mahl fortzusetzen. Ludwig schweifte ab und dachte an das dürre Mädchen heute Morgen im Bus. Die Träger ihres Tops hatten praktisch direkt auf den Schulterknochen gelegen. Das Gesicht hatte Ludwig an einen Schrumpfkopf erinnert. Das Mädchen hatte ihn angelächelt und ihm Platz gemacht, als er aussteigen musste. Ludwig wusste nicht viel über Bulimie, aber es musste sich um eine Krankheit handeln und nicht um einen Weg sich attraktiver zu machen. Allerdings hätte seiner Frau ein wenig Bulimie ganz gut getan.
- … würde dir ganz gut tun, blöde Kuh.
Sein Blick wanderte von der Zimmerdecke zurück zum Fernseher.
7
Es gibt kaum einen traurigeren Anblick, als Soldaten, die geschlagen aus einem Krieg zurückkehren.
Großvater presste seine Stirn gegen die Scheibe des Zuges. Ein Wunder. Er hatte überlebt. Er sah die vorbeiziehende Landschaft und hustete dabei Blut in sein Leinentuch. Das Rote Kreuz hatte es tatsächlich geschafft, die Gefangenen, die zu krank für die Arbeit in den Lagern waren, aus Russland rauszuholen. Großvater litt, wie so viele Andere auch, an Schwindsucht, hustete und spuckte Blut. Seit Wochen. Um die Epidemie in den Lagern unter Kontrolle zu bekommen und nicht noch mehr Arbeitskräfte zu verlieren, wurden die erkrankten Häftlinge ausgeliefert. Warum man sie nicht einfach exekutierte, denn es wurde ja schließlich auch einfach zum Spaß exekutiert, blieb ein Rätsel. Schnaufend kam der Zug zum Stehen. Ein kleiner Bahnhof irgendwo in Polen. Eine weitere Ladung ausgemergelter Kriegsgefangener wurde wie Vieh in die Waggons verfrachtet. Beim Anblick der grünen Blätter an den Bäumen kamen ihm die Tränen.