FLUCHSPUR. Gordon Kies
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Großvater sah Großmutter. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, aber beide wussten instinktiv, dass sie sich brauchten. Sie einen Mann, er eine Frau. Die Nachkriegsjahre waren hart und man bewältigte sie lieber zusammen, als allein. Ihre Wohnung war kalt, feucht und lag im Keller eines zerbombten Hauses. Nachdem er, Gott und Großmutter sei Dank, die Schwindsucht nach langem Kampf besiegt hatte, fand Großvater Arbeit als Maurer. Großmutter verbrachte ihre Tage damit, vor den Lebensmittelgeschäften in der Schlange zu warten. Beide brauchten dringend etwas Fleisch auf die Knochen, aber Fleisch war praktisch nicht zu bekommen. Zu dieser Zeit war es ganz normal, dass herumstreunende Katzen und Hunde eingefangen wurden, um Eintöpfen etwas Fleisch hinzuzufügen. Deutschland lag in Trümmern. Die Sieger des Krieges stritten um die Stücke vom Kuchen und Großvater mit einem Kollegen um einen gusseisernen Ofen, den er unter einem Berg Backsteinen gefunden hatte. Großvater verlor nicht nur den Streit sondern auch einen Schneidezahn.
Im Winter bekam Großvater eine Lungenentzündung und wurde in ein Krankenhaus der Alliierten gebracht. Er protestierte und wollte sich unter keinen Umständen in die Hände des Feindes begeben. Großmutter setzte sich durch und rettete ihm damit das Leben. Ein oder zwei Tage später wäre er höchstwahrscheinlich gestorben, wie ihm der britische Arzt mitteilte. Großvater bezweifelte das und erzählte dem Engländer etwas von deutschen Eichen und Kruppstahl. Großmutter las ihm die Leviten. Der Aufenthaltbeim Feind kostete Großvater den Job und Großmutter musste Vorwürfe und Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Schließlich bekam Großvater eine Anstellung als Anstreicher, die er aufgrund einer Farballergie umgehend wieder aufgeben musste. Großmutter nahm die Stelle in einer Textilfabrik an und nun wartete Großvater in den Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften. Beim Kartoffelschälen schnitt Großvater sich in den Daumen und weil er es nicht behandeln lassen wollte, entzündete sich die Wunde. Wieder musste Großmutter dafür sorgen, dass er sich erneut in die Hände des Feindes begab. Kurz darauf blieb Großmutters Periode aus und Großvater ging Untertage. Die Zechen brauchten Arbeiter. Er hatte Erfahrung mit der Spitzhacke und seine Lunge war Staub gewöhnt. Eine Woche vor der Geburt seines Sohnes brach ein herunterstürzender Stützbalken Großvaters linken Oberarmknochen als sei er ein Streichholz. Seiner Funktion beraubt sorgte der Stützbalken dafür, dass der Schacht einstürzte und drei Männer inklusive Großvater in dem Stollen festsaßen. In den folgenden zwei Tagen war der notdürftig geschiente Arm Großvaters geringste Sorge. Durst, Hitze, Dunkelheit, schwindender Sauerstoff und Panik relativierten die Schmerzen auf ein zu ertragendes Maß. Hätten sie sich zum Zeitpunkt des Einsturzes in einem tieferliegenden Stollen befunden, hätte Großvater wahrscheinlich niemals die Frucht seiner Lenden erblickt. So drückte der Fluch nochmal ein Auge zu. Großvater biss gerade auf den Panzer irgendeines Käfers und war in Gedanken bei seiner hochschwangeren Frau, die irgendwo da oben, wahnsinnig vor Sorge auf die Wehen wartete, als er ein Geräusch hörte. Seine beiden Leidensgenossen versuchten Feuchtigkeit von den Wänden zu lecken und hielten inne, als auch sie die Geräusche jenseits des Geröllwalls, den sie in den letzten Tagen vergebens versucht hatten aus dem Weg zu räumen, hörten. Kurz darauf, es kam den Männern wie eine Ewigkeit vor, drang der Lichtstrahl einer Grubenlampe durch einen Spalt. Großvater dankte Gott. Immer und immer wieder. Als der Lichtstrahl ihn erfasste und blendete, wimmerte er wie ein in der Dunkelheit verängstigtes Kind.
- Er wird das Land wieder in die richtige Spur bringen.
Die Deutschen waren voller Hoffnung. Nur Großvater war skeptisch, was diesen Adenauer betraf. Bundesrepublik Deutschland. Was war aus dem Deutschen Reich geworden? Er schaute voller Sorge aus dem Fenster des Krankenhauses.
- Was soll der schon ändern? Und jetzt dieser Blödsinn mit dieser NATO, die werden auch nicht verhindern können, dass unbescholtene Arbeiter von irgendwelchen dahergelaufenen belgischen Halunken verkloppt werden!- Aber was hat die NATO denn damit zu tun? Du redest Unfug …
Am Vortag wollten Großvater und seine Kollegen die Demontage eines Hydrierwerks verhindern. Die belgischen Soldaten waren ihnen in jeder Hinsicht überlegen und Großvater bezog kräftig Prügel.
- Dann rede ich halt Blödsinn, na und! Diese verdammten Besatzer sind wie die Heuschrecken, sie plündern unser Land. Wiedergutmachung … dass ich nicht lache! Die wollen unsere Rüstungsindustrie zerschlagen, um der Gefahr eines erneuten Angriffskrieges aus dem Weg zu gehen! Das ist es! Schau dir doch an was die Sowjets mit Berlin machen … ein Unding ist das.- Ich bitte dich! Wie kannst du allen Ernstes von einem neuen Angriffskrieg reden! Und deine Alliierten, die du so verteufelst, sind sie es nicht, die seit Monaten Berlin mit der Luftbrücke versorgen? Die uns per Besatzungsstatut eine begrenzte Souveränität zugesprochen haben? Hör gefälligst auf mit deinen Hasstiraden! Hast du nicht mitbekommen, was bei den Prozessen in Nürnberg ans Tageslicht gekommen ist? Wir. Sind. Die. Bösen. Jetzt müssen wir nun mal mit den Sanktionen und Konsequenzen leben.- Ach, Du … du hältst wahrscheinlich auch dieses neue Grundgesetz für gerechtfertigt, was?- Es ist ein Schritt auf dem Weg zurück zur Normalität, ja. Aber weißt du was, ich rede einfach nicht mehr mit dir über solche Sachen.- Worüber sollen wir dann reden? Über das Wetter?
Großmutter knallte die Tür und Großvater seine Faust auf die Matratze.
- Olle Kuh! Soll lieber an den Herd gehen … da gehört sie hin!
Die Krankenschwester brachte das Essen. Großvater schmeckte es furchtbar.
- Du bist ein verbitterter Mensch!- Realistisch bin ich, realistisch! Diese verdammten Kommunisten streben die Weltherrschaft an! Mach doch mal die Augen auf! Sie zünden eine Atombombe, dann werden Ungarn und China zur Volksrepublik, dann gibt es plötzlich die Deutsche Demokratische Republik. Na?- Da!
Lieblos stellte Großmutter den Teller auf den Tisch.
- Was ist das für ein Zeugs auf dem Ketchup?- Mir ist die Dose mit dem Curry umgekippt und um die Schärfe zu neutralisieren, habe ich etwas von dieser Sauce draufgeschüttet, die mir der nette britische Arzt mitgegeben hat … iss, oder lass es bleiben.- Neutralisieren? Das Wort habe ich das letzte Mal an der Front gehört …
Großvater stach die Gabel in die Brühwurst. Es klingelte an der Tür. Herta, eine Freundin von Großmutter war zu Besuch in der Stadt. Großvater mochte sie nicht. Er hasste ihr Selbstbewusstsein, ihren Berliner Akzent und außerdem haftete der Geruch von altem Fett an ihr. Sie war Betreiberin eines kleinen Imbisses in Berlin- Charlottenburg. Wie bei jedem Zusammentreffen fiel die Begrüßung zwischen ihr und Großvater frostig aus.
- Na, gar nicht im Krankenhaus?- Sehr witzig, Herta.
Herta setzte sich an den Tisch.
- Was isst du da?- Schmeckt scheußlich. Durch die ganze Sauce schmeckt man das Pökelaroma der Wurst gar nicht mehr. Meiner Göttergattin ist da ein Malheur passiert … willst du mal kosten?
Herta probierte. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen und als Imbissbesitzerin wusste sie, dass man immer offen für neue Rezepte sein sollte, gerade wenn sie aus einem Missgeschick heraus entstanden.
- Ich weiß gar nicht, was du hast … schmeckt gut. Was ist da drin?
Großmutter zeigte ihr die Worcestersauce.
- Das Currypulver harmoniert hervorragend damit. Man könnte noch ein wenig Chili hinzufügen und noch ein bisschen …- Ihr entschuldigt mich, aber dieses Gespräch geht in eine Richtung, die mich so überhaupt nicht interessiert, ich geh dann mal runter zum Rudi. Die Damen … viel Spaß mit eurer blöden Wurst mit Curry!
In der Eckkneipe saßen die Männer und schwelgten in Erinnerungen an vergangene Tage, in denen noch Zucht und Ordnung herrschte. Hier fühlte sich Großvater wohl. Er hatte genug Geld, um sich ein kühles Blondes zu leisten und diesen widerlichen Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Hätte er in die Zukunft schauen können und erfahren, was aus seiner Wurst mit Curry wurde, hätte er sich aufgrund von Frustration und Wut versucht in den Hintern zu beißen, sich Geld geliehen und so richtig volllaufen lassen.
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