FLUCHSPUR. Gordon Kies

FLUCHSPUR - Gordon Kies


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einen Moment zu warten. Vor den Fenstern hingen Traumfänger, es gab Holzfiguren mit grinsenden Fratzen und an den Wänden hingen Amulette und bunte Tücher. Das indirekte Licht der Kerzen vermittelte eine angenehme Atmosphäre. Ludwig legte den Kopf zur Seite und überflog die Bücherrücken in dem Teakholzregal. Ludwig kannte keinen der Titel. Wie auch, das einzige Buch, das er gelesen hatte, war ein Geschenk seines Vaters und handelte von einem alten Mann auf dem Meer. Nach langem Kampf mit einem Schwertfisch kam der Alte mit leeren Händen nach Hause, die Haie hatten ihm die Beute weggefressen. Das Leben meint es nicht immer gut mit einem. Auf dem Tisch lag ein Magazin mit der Schlagzeile Big Brother is watching you. Hätte Ludwig Zeit gehabt, den Artikel zu lesen, hätte er vielleicht eine Antwort auf seine Frage zu den allwissenden Popups gehabt, so bat ihn Madame Laluna, ihr zu folgen.

      - Setzen Sie sich, bitte.

      Er hatte sich den Ort der Wahrsagung etwas anders vorgestellt. Auf dem Küchentisch lag ein Stapel Karten und daneben eine einsame, heruntergebrannte Kerze. Es roch nach Knoblauch. Ludwig setzte sich.

      - Ist das ihre erste Sitzung dieser Art?- Ja.

      Sie lächelte. Sie hatte dunkle Augen. Sie sah älter als auf dem Computer aus, Ludwig schätzte sie auf Mitte Fünfzig. Er mochte ihren Akzent, auch wenn er besser zu einer Seniora gepasst hätte als zu einer Madame. Sie sah aus, wie eine der Zigeunerinnen, die Ludwig und Renate auf ihrer Spanienreise am Strand der Costa del Sol selbstgeflochtene Körbe verkaufen wollten.

      - Entspannen Sie sich.- Ich bin entspannt.

      Das war eine Lüge. Unzählige Male hatte er mit dem Gedanken gespielt, eine dieser Hellseherinnen aufzusuchen und jedes Mal hatte er den Gedanken beiseite gewischt und sich stattdessen eingeredet, dass das Glück auch ihn finden würde. Dreißig Jahre, nachdem er die Geschichte seines Großvaters zum ersten Mal gehört hatte, saß er tatsächlich am Tisch einer Wahrsagerin. Für einen rational denkenden Menschen wie Ludwig ein Wunder, auch wenn er nicht an Wunder glaubte.

      - Schön. Schauen Sie mir in die Augen und geben Sie mir ihre Hände.

      Ludwig schob seine Hände über die geblümte Tischdecke und Madame Laluna legte ihre Finger sanft in seine Handflächen.

      - Was haben Sie mit ihrem Finger gemacht? Sie strich über die Schiene und Ludwig fragte sich, warum sie sich die Frage nicht selbst beantworten konnte.- Gebrochen.

      Sie nickte und legte den Kopf in den Nacken. Stille.

      - Sie werden momentan etwas vom Pech verfolgt. Sie haben Kummer.- Kann man so sagen, ja.- Sie haben Angst.

      Traf das nicht auf neunzig Prozent der Bevölkerung zu? Pech. Kummer. Angst.

      - Manchmal.- Ich sehe Veränderungen in ihrem Leben. Eine Reise.- Eine Reise?- Ja, eine große Reise.- Wohin?- Ich weiß nicht. Warten sie …

      Hinter ihren geschlossenen Lidern bewegten sich die Augäpfel. Sie zog Luft durch ihre Nase und pustete sie durch den Mund wieder aus. Sie war Raucherin.

      - Sie haben Probleme mit dem Magen. Ludwig hatte mit fast jedem Organ seines Körpers Probleme. Er war nicht hier um zu hören, welche Krankheiten ihn heimsuchten, ob seine Ehe in Trümmern lag, wohin er verreisen sollte oder an welchem Tag er sterben würde, er war hier, um etwas über den Fluch zu erfahren.- Madame Laluna?- Ja?- Ich glaube, ein Fluch lastet auf mir oder genauer auf meiner Familie.- Ein Fluch?

      Sie öffnete die Augen.

      - Ja, ein Fluch.- Wie kommen Sie darauf?

      Ludwig erzählte ihr von seinem Großvater, von der Frau in dem Dorf, von ihren Verbrennungen und von dem Schuss, den sein Großvater abgab. Er berichtete ihr von den Konsequenzen, die sich aus diesem schicksalhaften Treffen ergeben hatten. Madame Laluna hörte aufmerksam zu, legte ein paar Mal ihre Stirn in Falten und hielt die ganze Zeit Ludwigs Hände umschlossen. Als Ludwig seinen Monolog beendet hatte, pustete sie aus und schüttelte langsam den Kopf.

      - - Unglaublich. Sie armer Mensch.

      Das wollte man grundsätzlich nicht hören, schon gar nicht von einer Wahrsagerin.

      Bevor er Renate sein Vorhaben erklärte, besuchte er seinen Großvater. Er kniete nieder und legte seine rechte Hand auf die Inschrift auf der in der Erde eingelassenen Steinplatte. Ludwig entfernte etwas Moos vom Rand der Steinplatte und sah vor seinem geistigen Auge seinen Großvater, wie er in seinem Rollstuhl auf der Veranda vor Ludwigs Elternhaus saß und den vorbeifahrenden Autos zuwinkte. Für seinen Großvater hatte Ludwig sein Zimmer geräumt und war auf den ausgebauten Dachstuhl gezogen. Im Sommer war es zu heiß und im Winter zu kalt. Aufrechtes Stehen war sogar für Ludwig ein Ding der Unmöglichkeit. Großvater sprach wenig und wenn, dann von der verfluchten Hexe. Er war eine Belastung für die Familie. Die Nerven lagen blank. Großvater brauchte die Fürsorge eines Kleinkindes. Er vergaß auf die Toilette zu gehen, sowohl am Tag als auch in der Nacht und auch die Tischmanieren erinnerten sehr an die eines Babys. Manchmal erzählte er Ludwig von Phantomschmerzen in seinen gelähmten Beinen. Ludwig konnte es nicht glauben, erst Jahre später, als ihn der fahrlässige Umgang mit einem scharfen Zimmermannshobel, das erste Glied des Ringfingers der linken Hand kostete, erfuhr er, wie real ein Phantomschmerz sein konnte und wie hemmungslos wirtschaftlich seine Vorgesetzten in der Fabrik auf die Dauer seiner unproduktiven Krankenzeit reagierten. Im Prinzip mochte Ludwig seinen Großvater, er mochte nur den Gedanken an einen möglichen Fluch, den er Ludwigs Familie beschert hatte, nicht.

      Ludwig stockte. Was würde er dort tun? Das hatte ihm Madame Laluna nicht gesagt, nur, dass er den Ursprung des Fluches finden musste. Doch Ludwig kannte weder den Ort und schon gar nicht den Namen der Frau. Auch sein Großvater kannte weder den Ort noch den Namen der Frau, sonst hätte Ludwig aus den unzähligen Wiederholungen der Geschichte davon erfahren. Er wusste nur von einer Kirche auf einem Hügel. Zudem stand immer noch die Möglichkeit im Raum, dass es sich bei der Geschichte um die blühende Fantasie seines Großvaters handelte und er damit nur eine unglaubliche Pechsträhne rechtfertigte. In Anbetracht der Geschehnisse, die sich durch drei Generationen zogen, war diese Theorie jedoch unwahrscheinlich.

      Ludwig wusste, dass es nicht weit vor den Toren von Stalingrad, das jetzt Wolgograd war, lag. Es musste einfach irgendwelche Hinweise auf dieses Massaker von 1942 und den darin abgeschlachteten Bewohnern geben. Und wenn nicht, so hatte er wenigstens endlich versucht, den Fluch aktiv zu bekämpfen, anstatt sich ihm zu ergeben.

      - Jedenfalls werde ich versuchen, das Dorf zu finden.- Grüß mir Großmutter, auch wenn ich sie nie kennengelernt habe.

      Bevor Großvater immer rapider abgebaut hatte, erzählte er oft von Großmutter und wie sie die harten Nachkriegsjahre zusammen überstanden hatten. Als er 1947 aus dem Gefangenenlager zurück nach Dortmund kam, warteten viele der Trümmerfrauen an den Bahnhöfen, um ihre Männer in die Arme zu schließen oder sich einfach neue Männer, die für sie sorgen würden, zu suchen. Großmutter suchte sich Großvater aus. Bereits ein Jahr später erblickte Ludwigs Vater Hermann das Licht einer trostlosen Welt. Großvater erzählte oft davon, dass sie tagelang nichts zu essen hatten, außer Kartoffeln und manchmal nur Kartoffelschalen. Das einzige Spielzeug, das Vater in den ersten Jahren besaß, war eine Rassel, mit der er Großvater in den Wahnsinn zu treiben drohte. Das schönste Geschenk im Leben von Ludwigs Vater war ein Lederfußball, den er zu seinem achten Geburtstag bekam und der ihm nur eine Woche später von ein paar älteren Jungen geklaut wurde.

      - Du wirst was?- Nach Wolgograd fahren.- Wo zur Hölle ist Wolgograd?- In Russland.- In Russland? Was willst du in Russland?- Du weißt doch, der Fluch …

      Renate schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

      - Du und dein Fluch! Hör mir auf, es gibt keinen Fluch! Du bist einfach ein Versager!- Renate, bitte …- Du kannst ja nicht mal Kinder zeugen!- Das ist unfair, ich …- Verlierst ständig deinen Job und immer mehr Haare!- Renate …- Nichts Renate! Entweder du hast morgen einen Job oder ich bin weg!

      Den Abend verbrachte Ludwig allein auf der Couch. Er schaute eine Reportage über erneuerbare Energien. Windenergie. Sonnenenergie. Die Kraft des Wassers. Für Ludwigs Geschmack sollten die Menschen weniger Autos kaufen, den Flug- und Schiffsverkehr einstellen und nicht jede Sekunde Wald in der Größe


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