Torus der Tloxi. Matthias Falke
hinweg zu.
»Wir haben einiges vor uns«, brummte er. »Und es wird kein Zuckerschlecken!«
Er kippte seinen Whiskey herunter, sog scharf die Luft ein, wartete bis das Brennen des Alkohols in seinem Rachen nachgelassen hatte, und fixierte uns dann forschend.
»Wie geht es euch?«, fragte er. »Dich, Jennifer, brauche ich nicht zu fragen. Aber du, mein lieber Frank, wirkst etwas – wie soll ich sagen? – derangiert.«
Er grunzte in sich hinein. Dieses Grunzen hatte ich auf dem Ausbildungsplatz zum ersten Mal gehört, vor … vor sehr vielen Jahren.
»Du sitzt ja da wie ein Greenhorn«, grinste er, »das zum ersten Mal im Orbit ist und nicht genau weiß, ob es lachen oder heulen soll!«
»Lass gut sein!«, lachte ich und boxte ihn über seinen Direktorentisch hinweg gegen die Schulter. »Das alles ist nur ganz einfach – unglaublich …«
»Das ist es in der Tat!«, donnerte er. »Aber wir haben keine Sekunde Zeit, uns darüber zu wundern, wie weit wir es gebracht haben.«
Ich rührte in meinem Kaffee. Jennifer legte mir die Hand auf den Unterarm und ließ einen warmen Blick über mich gleiten.
»Frank braucht immer etwas länger«, sagte sie, »bis er eine neue Realität akzeptiert. Und seit er unfreiwillig zum Oberkommandierenden in einem galaktischen Krieg wurde, hat sich sein kontemplativer Zug noch verstärkt.«
Ich feixte und hielt vorläufig die Klappe. Rogers dagegen nickte ernst.
»Es hätte mich nicht gewundert, wenn du dich zur Ruhe gesetzt hättest nach dem großen Tanz. Ein Häuschen in Pensacola, die vielen Sonderprämien verzehren und allmählich an die Memoiren denken. Verdient hättest du es dir. Ihr euch beide!«
Ich hob die Schultern. Die Frage hatte ich mir selber oft genug gestellt. Sie hatte mich manche Nacht gekostet. Wir hatten den schwersten Krieg gefochten und die gewaltigste Schlacht geschlagen, die in den Geschichtsbüchern der Menschheit verzeichnet war. Da durfte man wohl ein paar Tage Urlaub machen.
»Aber jetzt sind wir hier«, brachte ich den Gedanken laut zu Ende.
Rogers klatschte donnernd in die Hände.
»Und daran sehe ich, dass ihr die Alten seid. Selbst meine morschen Knochen hätte es nicht in einem Pflegeheim gelitten.« Wieder breitete er die Arme aus und beschrieb einen raumgreifenden Schwenk über die Panoramascheiben aus polarisierendem Elastalglas. »Das ist unsere Zeit!«
Er kam mir plötzlich wie ein russischer Erdölingenieur vor, irgendwo auf Spitzbergen oder Nowaja Semlja. Die Alkoholfahne, die aufgekrempelten Ärmel, das zerzauste, ungekämmte graue Haar, die aufgedunsenen roten Wangen mit den geplatzten Äderchen unter den wasserblauen Augen: Ich sah ihn vor mir, wie er auf einer Arktisstation vor seinem Blockhaus saß und nach der Polarnacht das erste Sonnenlicht begrüßte. Selbst das Licht hier draußen, das so seltsam hart und fahl war, glich einem Märzenmorgen in den hohen Breiten unseres geschundenen Heimatplaneten. Ach ja, das Licht!
»Was ist das eigentlich …«, fragte ich und verrenkte mir den Hals, um über die gläserne Dachkonstruktion nach jenem beeindruckenden Strahler Ausschau zu halten.
Rogers stand auf und ging zu einem Instrumentenschrank, an dem er eine Skala regulierte. Die Polarisation der Scheiben nahm stark ab. Das Licht, das von oben hereinstand, wurde schmerzhaft.
»Wir nennen es die Tloxi-Sonne«, sagte er leichthin. Er dimmte die Polarisation wieder ab und kehrte an seinen Platz zurück. »Ein selbstregulierender Plasmabrenner. Einige Milliarden Exowatt oder so. Irgendwas mit schrecklich vielen Nullen.«
Er grinste hilflos.
»Direktor Reynolds könnte euch das vermutlich besser erklären. Aber, um ehrlich zu sein: Wir verstehen es noch nicht ganz …«
Eine künstliche Sonne …, stammelte ich innerlich. Und ein Dr. Rogers, der mehrere Jahrzehnte lang die Planetarische Abteilung geleitet und im Zuge der interstellaren Exploration einige Dutzend Welten für die unierte Menschheit in Besitz genommen hatte, dieser Dr. Rogers hob die Achseln und räumte ein, es nicht zu verstehen.
Jennifer schien denselben Gedankengang absolviert zu haben.
»Eine synthetische Sonne?«, fragte sie. »Und die haben sie hier so einfach angeknipst?«
Rogers strahlte jetzt wie ein Vater, der zugeben muss, dass er von seinem Jüngsten im Schach geschlagen wurde.
»Hat sie keine drei Tage gekostet«, kicherte er. »Sie steht exakt über Lagrange 4 bezogen auf Triton und leuchtet uns die ganze Werft hier aus.«
Jennifer und ich wechselten einen Blick. Rogers musterte uns.
»Ich weiß, was ihr jetzt denkt«, sagte er. »Sie sind uns über. Und ich kann nur sagen: Ja, das sind sie in der Tat! Sie haben Jahrzehnte an Vorsprung, selbst wenn wir unsere eigene fulminante Entwicklung der jüngsten Zeit extrapolieren. Vielleicht sogar Jahrhunderte. Und dabei wissen wir noch nicht einmal, ob sie das von den Sinesern gelernt haben oder ob die Sineser sich umgekehrt ihres Ingeniums bedient haben.« Wieder zuckte er mit den Schultern. »Jetzt arbeiten sie jedenfalls für uns!«
Ein lautes Schlürfgeräusch verriet, dass Jennifer ihre Holunder-Hühner-Milch geleert hatte.
»Dann wollen wir hoffen«, sagte sie, »dass sie das auch weiterhin tun.«
»In Ordnung«, stöhnte Rogers mit wegwerfender Miene. »Kommen wir zur Sache?!«
*
»Was hältst du davon?«
Jennifer war aus der Nasszelle getreten. Obwohl der Flug keine dreißig Minuten und die Besprechung bei Rogers kaum eine Stunde gedauert hatte, hatte sie sich bei einer warmen Dusche entspannt. Jetzt trat sie neben mich, nach Rosmarin und Sandelholz duftend, und band sich das durchscheinende Negligé aus Tloxi-Seide vor der Brust zusammen.
Ich stand noch immer vor dem kleinen Bullauge unserer Kabine. Diese glich unserer winzigen spartanische Suite auf der ENTHYMESIS ganz ebenso wie diese unserer Unterkunft auf der MARQUIS DE LAPLACE, die sich wiederum nur unwesentlich von dem genormten Wohncontainer unterschieden hatte, in dem wir während der Akademiezeit gehaust hatten. All das waren Standardzimmer, wie sie auf unzähligen Schiffen und Stationen, Siedlungen und Modulen verwendet wurden. Wir bewohnten das Modell »verheiratetes Offizierspaar der Kommandeursebene, 45+«. Allerdings machte auch das gegenüber dem Silo, in dem wir unsere Ausbildung absolviert hatten, nur einen Raumgewinn von wenigen Quadratmetern aus. Die Einteilung war stets die gleiche. Die Nasszelle, die Instrumentenschränke, die Spinde für den persönlichen Besitz – den jedes Mitglied der fliegenden Crew in einem Handköfferchen transportieren können musste – und die beiden gravimetrischen Matratzen. Es waren Schlafboxen, in denen man kaum mehr Zeit verbrachte als die paar Stunden am Tag, die der Bewusstlosigkeit geschuldet waren. An Privatleben konnte man sich nicht mehr leisten, als man in diesen voll automatisierten Käfigen unterbringen konnte.
Und doch: Indem Jennifer neben mich trat, sich an mich schmiegte, mir die Hand auf die Schulter legte und schweigend mit mir in den Raum hinaussah, fiel mir ein, wie viele kostbare und köstliche Stunden wir in diesem Zimmerchen und seinen Kopien auf den verschiedensten Schiffen und Basen zugebracht hatten.
Wir sahen über die auskragenden Aufbauten des Moduls hinweg, auf dem Rogers seinen neuesten Gefechtsstand aufgeschlagen hatte. Fünfzig Stockwerke unter uns schoben sich die frei schwebenden Landeplattformen gegen die Leere vor. Auf einer davon stand die ENTHYMESIS. Im Cockpit glühte ein schwaches Licht. Einige Tloxi-Techniker machten sich an dem Schiff zu schaffen. Und direkt dahinter, durch einen optischen Sprung zum Spielzeugmäßigen verkleinert, erblickte man das Werden der MARQUIS DE LAPLACE II. Sie würde einmal Jennifers Schiff sein. Aber daran dachten wir in diesem Augenblick noch nicht. Uns beschäftigte etwas ganz anderes.
Unermüdlich waren die Arbeiter und Ingenieure dort zugange. Die Tloxi arbeiteten 20 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Ein kleines Serviceschiff, das in der Nähe der gewaltigen Baustelle schwebte, konnte von ihnen