Paul Guenther und seine Schule in Geithain. Gottfried Senf
auch die Meinung Herrn Sommers zu sehen, die er in seinem Brief von Anfang Mai 1996 äußert: „Guenther war in seinem politischen Denken konservativ-patriarchalisch, doch hatte er sonst nichts mit den kommenden Nazis gemein. Wäre er nicht schon 1932 gestorben, hätte er sich sicherlich gegen Hitler und seine Bande ausgesprochen. Sein Leben und Werk zeugt von einer tiefen Menschlichkeit und großer Verantwortung wenigen begabten und begünstigten Menschen gegenüber. Als junger Mensch war er selbst einer, der sich schwer einfügte, und er muss gewusst haben, dass alle bedeutenden Menschen Nonkonformisten sind, die sich in gewisser Beziehung ihre eigenen Gesetze schreiben. Die Grenze zwischen einem verantwortungsbewussten Nonkonformisten und einem wilden und undisziplinierten Abenteurer wie Hitler ist offensichtlich. Da kommt auch Nazzaro (s. S. 36, G.S.) wieder ins Spiel. Guenther erkannte den möglicherweise als sein eigenes jugendliches Selbst. Er weinte, weil Nazzaro ihm als Gegner gegenüberstand und nicht als Freund, die Tragik vieler menschlicher Beziehungen.“ (19)
1.9 Besuche in der Heimatstadt
Über Jahrzehnte hinweg ging man in den verschiedensten regionalen Veröffentlichungen zu Geithain davon aus, dass Paul Guenther nach seiner Auswanderung 1890 erst im Jahre 1919 seine Heimatstadt erstmalig besucht hatte. Mit dem Auffinden eines Dokuments im Kirchenarchiv der Nikolaikirche von Geithain (25) vor wenigen Jahren musste hier eine Korrektur vorgenommen werden.
Im Taufregister von St. Nikolai KB 13, S. 72, steht unter Nummer 46: „Tochter Therese Louise Margarethe, geb. 19. Juni 1896 in Paterson, Staat New Jersey (USA), getauft am 3. Juni 1900 in St. Nikolai
Vater: Paul Guenther, Mutter: Auguste Anna Olga, geb. Mechel von Kirchhein/Niederlausitz
Paten:
1 Bruno Günther, Bretthändler
2 Otto Polster, Kaufmann in Ölsnitz
3 Mimi Mechel, Ehefrau des Kaufmanns Karl Mechel in Milwaukee (USA), vertreten durch Frieda Polster, Näherin hier“
Mimi Mechel ist Frau Olga Guenthers Schwägerin, also eine Tante von Margarethe Guenther. Sie reiste nicht zur Taufe aus den USA nach Geithain, ließ sich aber von Tante Frieda Polster vertreten. Diese ist die Schwester von Otto Polster. Die Mechels wohnten zuletzt, d. h. vor ihrer Auswanderung, zwar in Berlin, stammten offensichtlich aber aus der Niederlausitz. Die Eintragung im Kirchenbuch lässt keinen Zweifel an der Feststellung, dass die Guenthers (beide oder nur Mutter Olga?) mit ihrer vierjährigen Tochter Margarethe im Sommer 1900 die Reise nach Geithain zum Zwecke der Taufe angetreten hatten. Der Wunsch nach einem Wiedersehen und einer Taufe in der alten Heimatkirche, zehn Jahre nach ihrer Auswanderung und vier Jahre nach Geburt der Tochter, ist nachvollziehbar, sowohl bei den Eltern in Amerika als auch bei den Großeltern Bruno und Therese Guenther in Geithain. Wie oben (s. S. 28) dargestellt, erlaubten die materiellen Verhältnisse der jungen Familie durchaus eine solche Reise im Jahr 1900. Der Besuch fand statt, ist aber nicht vergleichbar mit den späteren Besuchen Guenthers in seiner Heimatstadt. Schulfreunde und nähere Bekannte in Geithain werden zwar von dem Aufenthalt gewusst haben, er berührte die Geithainer Öffentlichkeit aber nicht weiter.
Wir befinden uns im Jahr 1900! Die ersten Spenden Guenthers und auch deren Veröffentlichung im Geithainer Wochenblatt erfolgten sechzehn Jahre später! Guenther war ganz einfach im Jahre 1900 für Geithain noch „ein Auswanderer“ und noch nicht der spätere „Wohltäter Geithains“.
Drei Jahre später erlitt Vater Bruno beim Obstpflücken einen schweren Unfall, von dem er sich nie wieder erholte. Mutter Therese pflegte ihn über die lange Leidenszeit hinweg bis zu seinem Tod im Jahre 1912. Pfarrer Wagner würdigte in der Trauerrede (32) Leben und Leiden des Toten. Besonders beeindruckend sind darin die Sätze, welche sich auf den Sohn des Ehepaares Guenther beziehen: „So hast Du mit Deinem nun verewigten Lebensgefährten einen langen Ehestand verbracht, in welchem es an manchem Weh und Ach, an Tränen und Seufzern wohl auch nicht fehlte, dessen größter Schmerz es aber doch wohl war, den einzigen Sohn dauernd in weiter Ferne zu wissen. Es ist ja schön, wenn Eltern aus eigener Erfahrung sagen können: ‚Wohl dem, der Freude an seinen Kindern erlebt!‘ Aber es ist doch betrüblich für solche Väter und Mütter, in der und jener besonderen Stunde ihres Lebens ihr Kind nicht bei sich zu haben … Auch in dieser Stunde fehlt er. Vielleicht träumt er drüben in der neuen Welt gerade jetzt von den Tagen seiner Kindheit und ruft im Traume seinen Vater, wie dieser in seinen letzten Krankheitstagen mehrmals im Traum oder Fieberwahn den Sohn gerufen hat.“
Bild 28: Widmung in der Trauerschrift
Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, warum Paul Guenther die Reise zur Beisetzung seines Vaters nicht angetreten hat. Heute dauert die Reise von New York nach Frankfurt/M. nur wenige Stunden, während damals mit vielen Tagen bis Wochen zu rechnen war. Es muss auch beachtet werden, dass eine Beerdigung nach den damals geltenden Gesetzen innerhalb weniger Tagen nach Eintritt des Todes zu erfolgen hatte. Die Trauerfeier fand am Pfingstsonntag des Jahres 1912 statt. Die Grabrede erschien gedruckt (Druckerei August Wiedner, Geithain) im Juli jenes Jahres mit obiger Widmung.
Therese Guenther lebte noch sieben Jahre lang als Witwe in Geithain. Zwischen ihr und dem Sohn bestanden briefliche Verbindungen. In Geithain lebten viele Verwandte, sowohl eigene als auch Geschwister ihres Mannes mit deren Familien. Sie freute sich an den Erfolgen ihres Sohnes in der Neuen Welt und an den Veröffentlichungen im Geithainer Wochenblatt über seine ersten Spenden für Geithainer Kriegerwitwen und Waisenkinder. Zu gegenseitigen Besuchen kam es, auch durch die vier Jahre Krieg bedingt, nicht. Am 18. November 1918 starb Therese Guenther im Alter von knapp 80 Jahren. Nun, zu Ende des Krieges und in den Wirren der Revolution, wundert es nicht, dass zur Beerdigung zwar viele Verwandte, darunter auch Cousin Oberlehrer Clauß aus Chemnitz (s. S. 67), später die „rechte Hand Guenthers beim Schulbau“, kamen, nicht aber der Sohn aus dem fernen Amerika.
„Sofort nach Wiederaufnahme des unmittelbaren Dampferverkehrs mit Deutschland reiste ich … im November 1919 in meine Heimatstadt.“ (18) Nach Jahren traf er sich mit den vielen Verwandten in Geithain und in der Chemnitzer Gegend. Auch „offizielle“ Treffen mit Geithains Bürgermeister Dr. Focke und Stadträten fanden statt. Man bedankte sich natürlich für die Spenden Guenthers während der Kriegsjahre. Neu aber – und für Stadt, Kirche und Schule von höchster Bedeutung – ist die Mitteilung Guenthers, eine Stiftung zu errichten. „Ich reiste in meine alte Heimat, um meinen Landsleuten Hilfe zu bringen. Diese Hilfe sollte aber keine vorübergehende sein. Ich errichtete deshalb zugunsten meiner Vaterstadt eine Stiftung und bestimme über deren Verfassung und Verwaltung Folgendes: … 1. Die Stiftung führt zum Andenken an meine Eltern den Namen Bruno-und-Therese-Guenther-Stiftung.“ (18, mehr zur Stiftung s. S. 53 ff.). Nach diesem Besuch wurden die Verbindungen zwischen Geithain und Guenther wesentlich intensiver. Mit dem folgenreichen Brief des Schulleiters Petermann vom 22.08.1922 an Guenther begann die noch bedeutsamere Phase der Spenden- und Stiftertätigkeit Paul Guenthers. Der Schulbau wird im Kapitel 2.2 gesondert beschrieben. In diesem Abschnitt stehen die Besuche aus Amerika in Geithain im Mittelpunkt.
Zur Grundsteinlegung der Schule am 4. Juli 1923 reiste Tochter Margarethe nach Geithain, überbrachte die Grüße ihres Vaters und wünschte für die nächsten Monate gutes Gelingen. Alle, sowohl Paul Guenther selbst als auch die Geithainer, rechneten fest damit, dass der Schulstifter an der reichlich zwei Jahre später erfolgten Schulweihe teilnehmen würde. Zum Ablauf der Weihefeier steht in der Weiheschrift (1) u. a. der Satz: „Übergabe des Hauses an den Vertreter der Stadtgemeinde Geithain, Herrn Bürgermeister Dr.