Im Paradies des Teufels. Klaus-Peter Enghardt
bereits nach drei Uhr morgens. Er schaltete die vorbereitete Kaffeemaschine ein und bot uns erst einmal gekühlte Getränke an. Unser Zimmerkamerad hieß Richard und wohnte in der Heimat nur fünfundzwanzig Kilometer von mir entfernt, wie sich bei unserem Gespräch herausstellte, und zumindest wir beide waren uns auf Anhieb sympathisch. Wir tranken unseren Kaffee, aßen ein paar Plätzchen und waren dann froh, endlich schlafen zu können.
Der Tag nach unserer Ankunft war für uns frei.
Wir schliefen bis nach neun Uhr und nach der Morgentoilette, gegen zehn Uhr, bekam ich auch gleich die Antwort auf den ersten Teil meiner Frage, wie warm es im April am Tage wird. Im Zimmer lief die Klimaanlage und hielt die Temperatur konstant auf dreiundzwanzig Grad Celsius. Als ich die Tür öffnete, um forsch ins Freie zu treten, prallte ich entsetzt zurück, als ob mich eine unsichtbare Faust getroffen hatte.
Oh Gott, das hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht vermutet! Ich suchte ein Thermometer und wurde auch fündig. Da es sich im Schatten der Hauswand befand, musste ich wohl glauben, was ich auf der Scala ablas. Die Temperatur betrug achtundvierzig Grad im Schatten. Trotz der Hitze machte ich, gemeinsam mit dem neuen Kollegen, den ersten Spaziergang und allmählich gewöhnte ich mich an die Temperatur.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich eine Sonnenbrille vergessen hatte und diese Tatsache war mehr als ärgerlich. Erstens hatte ich noch kein irakisches Geld, um mir eine Sonnenbrille kaufen zu können und zweitens wusste ich nicht, wann ich überhaupt die Gelegenheit zu einem Einkauf bekommen würde.
Am Abend fand in unserem Haus die schon erwähnte Einreisefeier statt und ich war froh, im Flugzeug zusätzlich noch eine Flasche Whisky gekauft zu haben. Ich stellte die Flasche auf den Tisch, was von den Anwesenden wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde und mich in ihren Kreis integrierte. Bier gab es nicht, das war im Mittelirak ein Engpass, und so trank man zum Schnaps Cola oder eine weiße Limonade, Seven Up, genannt.
Am nächsten Morgen begann dann mein erster Arbeitstag.
MUTHANA, ABU GHRAIB UND BAGDAD
Um fünf Uhr dreißig versammelten wir uns vor dem Haus und warteten auf die Baustellenbusse aus Bagdad City, die uns zur Baustelle „Muthana“ brachten. Im Bus spielten immer die neuesten Musikkassetten, die sich die Fahrer vom sogenannten „deutschen Kassettenshopper“ in Bagdad besorgten. Das war jedoch nicht etwa ein ausgewanderter Deutscher, wie man vermuten könnte, sondern einfach nur ein irakischer Musikkassettenhändler, der als einziger in Bagdad neben englischer auch deutsche Musik anbot.
Er flog ein paar Mal im Jahr nach Deutschland und brachte von dort die neuesten Platten mit, die dann in seinem Shop in Bagdad von ihm raubkopiert wurden. Das war in diesem Land gängige Praxis und völlig legal.
Beliebt unter den Monteuren waren Mischkassetten, die unter der Rubrik „Tophits“ nummeriert angeboten wurden. Die aktuelle Kassette, die zu jener Zeit in den Bussen auf und ab lief, hieß „Tophits 32“ und dudelte morgens und abends.
Wencke Myhre gab darauf die Warnung ihrer Mutter weiter, sich von bösen Buben fernzuhalten, Nickebocker und Biene verrieten uns, dass sie ihr ganz großes Glück in einem Zug nach Osnabrück gefunden hatten, James Last ließ uns von der „Biskaya“ träumen und Al Bano und Romina Power besangen mit „Sharazano Sharazan“ ihr heimliches Paradies.
Der Laden des Kassettenshoppers befand sich an der Karrada, schräg gegenüber der BRD-Botschaft.
Wenn die deutschen Monteure den Shop okkupierten, nahmen die darin befindlichen Iraker bald Reißaus, denn dann wurde es meist laut. Vor allem, wenn ich meine Wünsche äußerte und der Händler mit Begeisterung und voller Lautstärke Titel von Black Sabbath, Deep Purple, Metallica oder Iron Maiden spielte.
Ganz hoch in der Gunst der Monteure standen aber auch zwei Stimmungskassetten, die der Händler mit „Das grobe“ und „Das Super“ beschriftet hatte. Später bekam ich einmal die Plattencover in die Hände und konnte die richtigen Titel lesen. Sie hießen: „Das große Stimmungsalbum“ und „Das Super-Stimmungsalbum“. Offensichtlich waren dem Händler jedoch die Namen zu lang. Beliebt war auch eine sehr deftige Stimmungskassette, auf der sich Titel wie „Schnell, schnell, schnell, wir fahren ins Bordell“ oder „Ja, ja in Hollywood, da ist der Puff kaputt“ oder gar noch deftigeres Liedgut deutscher Schlüpfrigkeit befand. Diese Kassette wurde meist von den älteren Kollegen gekauft, die damit wohl heimliche Sehnsüchte stillten oder bei denen eher der Wunsch der Vater des Gedanken war.
Nun aber trat ich zum ersten Mal die Fahrt zu meiner neuen Arbeitsstelle an. Dazu fuhren wir auf der Fernstraße zehn, die von Bagdad nach Falludscha führte. Für diese Stadt gab es, wie für die meisten Städte im Irak, mehrere Schreibweisen. Die Iraker bezeichneten sie „Al-Fallujah“ oder
„Al-Anbar“. Ich gehe später noch ein wenig näher auf diese Stadt ein und auch auf das Schicksal, das diese Stadt noch über drei Jahrzehnte nach meinem Aufenthalt erlitt.
Die Fernstraße führte von Falludscha über Hit und Rutbah, weiter bis Jordanien oder Syrien.
In Abu Ghraib unterfuhren wir eine Fußgängerbrücke. Ohne sie hätte das Überqueren der Straße für die Fußgänger einen täglichen Überlebenskampf bedeutet. Es wäre schlicht selbstmörderisch gewesen, diese Straße an anderer Stelle zu passieren.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich die Zufahrt zu einem riesigen Parkplatz, auf dem mehrere hundert Trucks und Lkw standen. Dieser Platz war ein Zollparkplatz von unübersehbarer Größe. Den Fahrern blieb es nicht erspart geduldig zu warten, bis ihre Fahrzeuge endlich kontrolliert, abgefertigt und für die Weiterfahrt freigegeben wurden.
Bei manchen dauerte das Wochen, es sei denn, die Fahrer konnten das nötige „Schmiermittel“ einsetzen, um die Zöllner in Bewegung zu bringen. Bestechung war bei den meisten Behörden im Irak nämlich das A und O und deshalb auch völlige legitime Praxis.
Wir bekamen das später manchmal auf den Baustellen zu spüren, wenn unsere dringend erwarteten Materialtrailer auf den jeweiligen Parkplätzen standen und erst ein saftiges Handgeld die sofortige Freigabe ermöglichte.
Mancher hohe Zollbeamte fuhr einen von unserer Firma „gesponserten“ Toyota Corolla, wenn zum Beispiel in Basra ein Schiff mit unseren Materialcollies auf Reede lag und die dringend benötigte Ladung sonst nicht kurzfristig gelöscht wurde.
Einige hundert Meter hinter dem Parkplatz standen auf einem riesigen Arial riesenhafte rot-weiße Sendemasten, die mit armdicken Stahlseilen mehrfach abgespannt und an allen vier Seiten durch Flakstellungen gesichert wurden.
Nach ein paar Kilometern verlief die Straße dann nach links, zu unserer Flughafenbaustelle. Dort standen einige Bauwagen und Baucontainer für die Arbeitskräfte, versehen mit Klimaanlagen und Kühlschränken.
Ein deutscher Monteur sorgte dafür, dass immer ausreichend Kaltgetränke für die Kollegen zur Verfügung standen, obendrein betreute er das Materiallager.
Die Getränke brachten die Busse aus Bagdad mit, zahlreiche Kästen Cola, Wasser und Seven Up aber auch einen süßen Fruchtsaft, der wegen seiner gelbroten Farbe von uns „Möhre“ genannt wurde.
Außerdem gab es noch einige Thermokübel mit kaltem Tee.
Zum Betreiben unserer Geräte und zur Versorgung der Baustelle mit Strom liefen den ganzen Tag über Notstromaggregate. Bei den Aggregaten handelte es sich um leistungsstarke, mit Wasser gekühlte Dieselmotoren, die den gesamten Arbeitstag mit voller Leistung liefen. Kraftstoff sparen brauchte man nicht, den gab es in diesem Land im Überfluss und zu geringsten Preisen. Eine Limo oder Cola an der Straßenecke kostete das Fünffache eines Liters Benzin oder Diesel.
Von Zeit zu Zeit kam ein Tankwagen unserer Firma auf die Baustelle, der unsere Tankfässer vor Ort befüllte. Der Fahrer betreute alle Baustellen im Irak und hatte gut zu tun.
Wir montierten auf der Baustelle Leichtbauhallen und ich wurde der Dachkolonne zugeteilt. Wie ich später erfuhr, war das die unbeliebteste Arbeit unter den Monteuren. Bereits wenige Tage