Traumzeit für Millionäre. Roman Sandgruber
Quelle: Steuerstatistik, das Jahr 1905 interpoliert.
Die Grundlage des Rothschildschen Vermögens war schon ein Jahrhundert früher von Mayer Amschel Rothschild gelegt worden. Er hatte das Frankfurter Stammhaus gegründet, das nach seinem Tod 1812 sein gleichnamiger ältester Sohn weiterführte. Die übrigen vier Söhne ließen sich in den vier damals größten Städten Europas nieder: Nathan ging nach London, James nach Paris und Carl nach Neapel. Der zweitälteste der Brüder, Salomon Mayer Rothschild, war 1816 nach Wien übersiedelt. Bis 1843 wohnte er, weil Juden der Grund- und Hausbesitz in Wien verboten war, im Hotel zum Römischen Kaiser in der Renngasse 1, dessen einziger Mieter er allmählich wurde. Erst 1843 durfte er Grundbesitz erwerben und das Hotel kaufen. Die 1822 gewährte Erhebung in den Freiherrnstand brachte ihm das blau-gelbe Wappen mit den fünf Pfeilen und der Devise Concordia, Integritas, Industria. Er hatte nur zwei Kinder: Anselm heiratete seine Cousine Charlotte aus der Londoner Linie, Betty ihren Onkel aus der Pariser Linie. Anselm, der nach Salomons Tod die Wiener Geschäfte weiterführte, hatte drei Söhne: Nathaniel, der unverheiratet in Wien lebte, Ferdinand James, der seine Cousine Evelina aus der Londoner Linie heiratete und nach England übersiedelte, und Salomon Albert, der mit Bettina Carolina de Rothschild aus der Pariser Linie verheiratet war, die 1892 im Alter von 34 Jahren starb. Ferdinands Ehe endete schon 18 Monate nach der glamourösen Hochzeit mit dem Tod Evelinas. Der unglückliche junge Witwer verwirklichte sich in Buckinghamshire mit Waddesdon Manor seinen Traum von einem englischen Landhaus: ein Loireschloss von riesenhafter Dimension inmitten Südenglands mit 222 Zimmern und 50 Gewächshäusern, wo er die High Society Englands bewirtete und seine Spleens auslebte. Familienoberhaupt am Wiener Platz wurde Salomon Albert. Von ihm stammten fünf Söhne und zwei Töchter: Georg, der nie geheiratet hatte und in einem psychiatrischen Sanatorium endete, Alphonse, der für die Weiterführung der Geschäfte gedacht war und eine Ausbildung zum Rechtsanwalt erhalten hatte, jedoch das Leben bevorzugte, Louis, der das Bankhaus und die Beteiligungen von 1911 bis zur Vertreibung und Enteignung im Jahr 1938 leitete, dann der feinnervige Eugène, der als bedeutendste Leistung eine Monographie über Tizian schrieb, und der jüngste der Brüder, Oscar Ruben, der 1909 Selbstmord beging. Charlotte war früh verstorben. Und die jüngste und taubstumme Tochter Valentine Noémi heiratete 1911 Sigismund Baron Springer.
Am Anfang vermittelten die Rothschilds Staatsanleihen und Privatanleihen, u. a. für die Esterházy und für Metternich. 1835 erhielt Salomon Rothschild die Konzession für den Bau der „Kaiser Ferdinands-Nordbahn“, mit der er eine fast monopolartige Stellung in der Wiener Kohlenversorgung erreichte und auch eine feste Verankerung in der Industrie begründete. Er erwarb die Eisenwerke Witkowitz und gründete zahlreiche andere Unternehmen. 1855 gelang seinem Nachfolger Anselm mit der „Kaiserlich-königlichen Österreichischen Creditanstalt für Handel und Gewerbe“ die Gründung der größten Aktien- und Investmentbank Österreichs mit einem Gesamtkapital von 60 Millionen Gulden.17
Baron Anselm Rothschild hatte das Image eines Asketen: Sein Hauptlaster soll Schnupftabak gewesen sein. Er führte das Leben eines Einsiedlers und Sparmeisters, sprach, um sich von den Angestellten abzuheben, nur Französisch, und sein Begräbnis sei so anspruchslos gewesen wie das eines armen Juden.18 Bei seinem Tod im Jahr 1874 hinterließ er ein Vermögen von ca. 94 Millionen Gulden, die Hälfte davon als Privatvermögen.19 Die nächstgrößten Vermögen in diesem Jahrzehnt lagen bei 19, 18 und 14 Millionen Gulden, das fünftgrößte Vermögen bereits bei unter fünf Millionen.
Albert als jüngster übernahm die Wiener Geschäfte, Ferdinand ging nach England und Nathaniel, der den größten Teil der Kunstschätze erbte, lebte in Wien, betätigte sich als Kunstsammler und Philanthrop und führte das sorglose Leben eines Rentiers. Zwischen 1871 und 1878 hatte er sich in der Theresianumstraße ein Palais errichten lassen, das zu den prachtvollsten Neubauten des Wiener Historismus zählte. Ab 1884 begann er in Reichenau an der Rax mit dem Bau einer Sommervilla im Stil der Loire-Schlösser. Die Bezeichnung Villa war leicht untertrieben, bei 200 Zimmern und Baukosten von 2 Mio. Gulden, dem Zehnfachen der benachbarten Villa Wartholz für den Kaiserbruder Erzherzog Carl Ludwig und dem Hundertfachen der nahe gelegenen, auch nicht gerade kleinen Villa Hebra. Das Projekt blieb halbfertig. Nicht weil Nathaniel das Geld ausgegangen wäre, sondern weil er 1889 plötzlich das Interesse verloren hatte und das Gebäude zum Ärger der Fremdenverkehrsgemeinde und des benachbarten Erzherzogs in eine Stiftung für Tuberkulosekranke umwandeln wollte. Weil ihm das wegen des Widerstands der Anrainer und des Kaiserbruders nicht gelang, machte er ein Militärinvalidenhaus daraus.
Nathaniel wird meist als schrulliger Hypochonder beschrieben, der in seinem Schloss Enzesfeld nur eine einzige Nacht verbrachte, weil er gehört hatte, dass es für Epidemien anfällig sei, und der sich eine Jacht um vier Millionen Gulden zulegte, mit der er sich aus Angst vor dem Ertrinken nicht von der Küste wegwagte.20 Wenn Nathaniel reiste, dann mit eigenem Salonwagen, eigenem Leibarzt, Sekretär und Kammerdiener. Wie sein englischer Cousin Alfred, der sein eigenes Orchester dirigierte und sich einen privaten Zirkus hielt, in dem er als Direktor auftrat, hatte auch Nathaniel sein Privatorchester, das ihn überallhin begleitete und das er selber leitete, er hatte seine Gewächshäuser und seinen Fußballclub, den „First Vienna Football Club“ auf der Hohen Warte, der noch immer die blau-gelben Farben der Rothschilds trägt.21
Die wirtschaftliche Leitung des Hauses hatte Albert Salomon, genannt „Salbert“. Seine Geschäfte liefen wie geschmiert: Seine Einkünfte kamen aus der Privatbank und aus der Creditanstalt