Israel. Sotill Wolfgang
zu ziehen oder ein Schwert zu schwingen, begann bei den Juden die Akkulturation der jungen Generation in die alte Überlieferung, sobald die Knirpse mit etwa zwei Jahren Wörter verstehen und nicht selten im Alter von drei Jahren auch lesen konnten. Der Unterricht begann, kurz gesagt, bald nach dem Abstillen.“5
Die Knaben gingen ab dem dritten, spätestens ab dem fünften Jahr in den Cheder, wo ihnen der Lehrer die hebräische Schrift und Sprache an Hand von Bibeltexten beibrachte. Mit acht, neun Jahren, konnten die begabteren Buben bereits ganze Teile der Tora auswendig. Danach folgte die höhere Stufe, jene der Kommentierung der Bibel. Dabei wurden die Kinder in den Disziplinen Erinnern, Lernen und Disputieren unterrichtet. Die Begabteren setzten das Studium in einer Torahochschule, einer Yeshiwa, fort. Und das ist kein leichtes Studium, denn der Tag beginnt um 7.00 Uhr und endet kaum vor 23.00 Uhr. In einem Artikel in der „Jüdischen Allgemeinen“ bekennt ein Gastautor: „Viele können sich kaum eine Vorstellung davon machen, wie schwierig und hart und intensiv das Talmudstudium ist. Nichts von dem, was ich an der Universität durchgemacht habe, ist vergleichbar mit den hohen Ansprüchen des Torastudiums und der Disziplin, die es fordert. Darin liegt einer der Gründe für die Tatsache, dass so viele, die durch diese harte Lehre gingen, es draußen in der Welt, im beruflichen und wirtschaftlichen Wettbewerb, so weit bringen.“6
Bei diesem Studium in einer Yeshiwa wird den jungen Männern beigebracht, wie man vom Kleineren auf das Größere schließt und wie es geht, dass man von der allgemeinen Situation Rückschlüsse auf besondere Lebensumstände zieht. Zentrales Anliegen war es auch, immer wieder Fragen zu stellen. So entstand eine dialogische, ironische, in sich immer wieder gebrochene Welt des Denkens, deren Ziel nicht die Anhäufung von kognitivem Wissen, sondern die intellektuelle Beweglichkeit war. Freilich: Dafür bedarf es auch eines besonderen Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler. Der Lehrende ist – so klug er auch sein mag – nicht die unangreifbare Autorität. Ganz im Gegenteil: „Die jüdische Tradition gestattet, ja ermutigt den Schüler, sich gegen den Lehrer zu stellen, ihm zu widersprechen und bis zu einem gewissen Punkt darzulegen, dass er unrecht hat. Das ist bis zu einem gewissen Grad der Schlüssel zur Erneuerung“7 befinden Oz und Oz-Salzberger. Das Schüler-Lehrer-Verhältnis besteht also nicht in einer hierarchischen Abhängigkeit, sondern in einem wechselseitigen, gemeinsamen Lernprozess. Und so wird von jedem 13-jährigen Juden, der seine Bar Mitzwa feiert, erwartet, dass er einen „chidusch“, eine neue Erkenntnis bei der Interpretation der ihm vorgelegten Torastelle, beisteuert. Er soll etwas Neues herausfinden und nicht bloß Altbekanntes wiedergeben. Und die einzigartige Besonderheit daran: Er darf mit seinen Ideen auch falsch liegen, ohne sofort zurechtgewiesen zu werden. Dies nimmt die Angst vor Fehlentscheidungen und gesellschaftlichen Verurteilungen. Die Tradition der jahrhundertealten Lernpraxis führte auch dazu, dass Israel eine höchst erfolgreiche Start-up-Nation ist. Amos Oz weist darauf hin, dass das Judentum stets „eine Kultur des Zweifels und der Diskussion gepflegt hat, ein offenes Spiel der Deutungen und Gegendeutungen, Umdeutungen und widersprüchlicher Deutungen. Die jüdische Zivilisation zeichnet sich von Anfang an durch ihre Streitlust aus.“8
Grundlage dieses Lernens sind die Bücher. Weit vom Jerusalemer Tempel entfernt, zerstreut in alle Welt, blieben den Juden nur die Bücher. Juden hatten keine Reliquien, keine apostolische Erbfolge, keine Heiligenstatuen oder Bilder – alles, was ihnen blieb, waren Bücher. Wenn Juden bei Pogromen um ihr Leben rannten, aus dem brennenden Haus oder der brennenden Synagoge flüchteten, nahmen sie stets das Wertvollste, ihre Kinder und ihre Bücher, mit.
Das Wort ist also der Schlüssel zur Kontinuität im Judentum. Juden tragen ihren Gott in Form der Tora bei sich. Heinrich Heine spricht in diesem Zusammenhang vom „portablen Gott“. Texte und Bücher sind es auch – bei aller Unterschiedlichkeit der Interpretationen –, die das Judentum zusammenhalten. So treffen sich ein Jude aus Buenos Aires, einer aus Novosibirsk und ein deutscher Jecke, bei aller Verschiedenheit, die ein Russe, ein Argentinier und ein Deutscher aufweisen, doch auf einer gemeinsamen Ebene. Auf der Basis der gemeinsamen Kultur, die von den gemeinsam gelesenen Büchern ausgeht. Diese Kultur mag widersprüchlich sein, aber es bleibt dennoch dieselbe Kultur.
Lust an der intellektuellen Auseinandersetzung, aber auch der den Juden eigene Humor, bringen einen besonderen Charakterzug hervor: die Chuzpe. Unter Chuzpe versteht man eine Mischung aus intelligenter Unverschämtheit, Charme und unwiderstehlicher Dreistigkeit. So nehmen Juden Könige und Rabbiner, Glaubensgenossen und Andersgläubige aufs Korn und machen dabei selbst vor Gott nicht halt. Das wiederum bedeutet: Es gibt keine Tabus im Denken. Ein Beispiel: Ursprünglich galt Gott als alleiniger Schöpfer. Seit der Erschaffung von Adam und Eva kann er aber nicht mehr allein agieren. Adam und Eva sind zu zweit, Gott steht allein. Auch sind seine Gebote „nicht mehr im Himmel“, wie es im Buch Deuteronomium (30,11) heißt. Das wiederum befähigt die numerische Mehrheit der Juden gegenüber dem einen Gott über die Tora und deren Interpretation allein zu entscheiden. Bei so viel Chuzpe fragen sich die Juden natürlich: Was denkt Gott über seine Entmachtung? Die Antwort kann man im Talmud nachlesen: „Rabbi Nathan begegnete dem unsterblichen Propheten Elia und fragte ihn: ,Was tat der Heilige, gelobt sei Er, zu eben jener Stunde?‘ Er antwortete: ,Er lachte und sprach: Meine Kinder haben mich besiegt.‘“
Wenn fromme Juden lernen, dann geht es nicht darum, jüdische Geschichte nach rein objektivierbaren Kriterien zu begreifen, sondern es geht „um ein Wissen, bei dem das Schaffen des Menschen dargestellt und zugleich ein Gespür für eine göttliche Gegenwart vermittelt wird“, legen Oz und Oz-Salzberger dar. Lernen sei also Gottesdienst und Gottesdienst sei immer auch Erkenntnisgewinn.
Nach diesem Exkurs sollte klar sein: Die hohe Zahl der Nobelpreisträger beruht nicht auf Chromosomen, sondern auf einer jahrhundertealten Tradition des Lernens. Eines Lernens, das nicht als notwendige und zeitweilige Beschäftigung gesehen wird, die später vom „richtigen Leben“ abgelöst wird. Lernen ist im Judentum existenziell.
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