Reform des Islam. Abdel-Hakim Ourghi
zu unterscheiden sind oder wo Frauen im Namen einer religiösen männlichen Dominanz unterdrückt werden. Genau wie jede andere Religion kann der Islam auch gefährlich werden, wenn nicht klar zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen unterschieden wird und politische mit religiösen Interessen vermischt werden. Die Reform des Islam ist eine „Gegenpredigt“5 gegen die Predigten des konservativen Islam und seine politischen Herrschaftsansprüche.
Ist der Koran reformierbar? Wenn ja, wie soll seine Aufklärung aussehen? Man ist sich darüber einig, dass der Koran die wichtigste normative Quelle für alle religiösen, moralischen und rechtlichen Vorschriften im Islam ist. Als Heiliges Buch wird er verehrt, gefürchtet, missbraucht oder sogar gehasst. Er besteht aus Versen, deren Aussage klar und verständlich ist, er enthält aber auch mehrdeutige Verse (z. B. Koran 3:7). Er gilt mit den „Geheimnisvollen Buchstaben“ (z. B. Koran 2:1, 7:1 und 10:1) am Anfang von 29 Suren als wohl widersprüchlichstes Buch. Als literarisches Werk bietet er eine Fülle von Poesie und Prosa. Seine Sprache ist die Sprache des Friedens und die Sprache der Gewalt. Er ist mal tolerant, mal herzlos und erbarmungslos. Der in ihm beschriebene Gott ist mal zornig und hart strafend, dann wieder barmherzig und ein Freund seiner Verehrer. Die Auslegung bestimmter Suren kann über Frieden und Krieg, Leben und Tod entscheiden.
Für Muslime aller Couleur stellt der Koran das kollektive Gedächtnis und das Herz des Islam dar. Er verschafft sich historische, kontinuierliche Bedeutsamkeit durch seine multimediale Präsenz im Alltag der Muslime.6 Vielmehr noch gilt er als religiöse Erinnerungsbrücke zwischen seiner historischen Entstehungssituation im 7. Jahrhundert, seiner Rezeption in den folgenden Jahrhunderten und der jetzigen Zeit. Der Koran wird von den Muslimen als das Wort Gottes gesehen, das Maß aller Dinge, an dessen Vorschriften sie sich orientieren und das in ihrem alltäglichen Handeln den wichtigsten Platz einnimmt. Gemäß dem muslimischen Korandiskurs ist der Koran Gottes authentisches, unverfälschtes und letztgültiges Wort. Wer auch nur ein wenig am Wortlaut rüttelt, einen Teil von ihm ablehnt oder ihn gar als Menschenwerk betrachtet, gilt schnell als Häretiker und Apostat. Für Nichtmuslime, die aus unterschiedlichen Gründen Interesse an dem Heiligen Buch des Islam zeigen und es zu lesen versuchen, bleibt der Koran hingegen oft ein befremdliches Buch, bestenfalls ein schwer zugängliches literarisches Kunstwerk. Nicht zuletzt tragen die im deutschsprachigen Raum verbreiteten Koranübersetzungen unter den nichtmuslimischen Lesern zur Irritation bei. Hans Zirker, einer der bekanntesten Koranübersetzer, hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass die kommunikative Sprachgestalt des arabischen Originaltextes in den deutschen Koranübersetzungen nicht in Betracht gezogen wird.7
Es entbehrt nicht einer ironischen Note, dass jeder Muslim zwar ein Koranexemplar besitzt, aber bis auf eine Minderheit kaum jemand mehr darin zu lesen weiß – ganz zu schweigen von denjenigen, die Arabisch nicht als Muttersprache sprechen. Es reicht nicht, dass die Mehrheit der Muslime einige Koransuren auswendig beherrscht, mit denen die gottesdienstlichen Handlungen verrichtet werden. Es muss eine ernsthafte innerislamische Debatte über den Umgang mit umstrittenen Suren im Koran, wie etwa mit den Schwertversen oder den Versen über die Unterdrückung der Frau, geben. Eine unabdingbare Voraussetzung für diese Auseinandersetzung der Muslime mit dem Koran beginnt mit der Veröffentlichung einer neuen Koranedition, die dessen Entstehungssituation im 7. Jahrhundert widerspiegelt.
Jeder Muslim ist in der Lage, durch intensive Auseinandersetzung mit dem Koran diesen gemäß seiner aktuellen Situation zu interpretieren und zu verstehen. Vom Deutungsmonopol der Gelehrten muss endlich Abschied genommen werden. Jeder Muslim muss sich selbst über seine Beziehung zu Gott und zu seinen Mitmenschen Gedanken machen. Anders ausgedrückt: Jeder Muslim muss selber denken, ohne fremde Anleitung, und sich von den kollektiven Zwängen befreien, die ihm seit Jahrhunderten auferlegt sind.
Tatsächlich ist der Islam ein wichtiger integraler Bestandteil des Alltags aller Muslime unterschiedlicher Konfession. Gott ist immer präsent im alltäglichen Handeln der Muslime, besonders das Bild von Gott als einem Strafenden. Die Reform des Islam will die Muslime auch von diesem Bild des tyrannischen Gottes und von der Angst vor der Hölle im Jenseits befreien. Sie können auf seine liebevolle Verzeihung hoffen, denn Gottes Barmherzigkeit im Diesseits und Jenseits ist grenzenlos und allumfassend (vgl. Koran 7:156 und 40:7). Seit Jahrhunderten diktieren die männlichen Theologen und Rechtsgelehrten des konservativen Islam den Muslimen und Musliminnen, wie sie ihr Leben zu führen haben, und drohen ihnen mit dem ewigen Höllenfeuer, wenn sie sich nicht an die Gebote und Verbote der koranischen Weisung halten. Doch jede Muslimin und jeder Muslim kann selbst den Koran lesen, verstehen und deuten, um zu Gott zu finden. Es gibt im Islam keine vermittelnde Instanz zwischen Gott und dem Menschen und eine solche ist auch nicht nötig. Auch Frauen können die Grundlagen des Islam im Rahmen ihrer eigenen Selbstbestimmung deuten und damit zum Ende der männlichen Dominanz in ihrer Religion beitragen. Deshalb braucht der Islam dringend Imaminnen.
Ist der Islam dabei, sich abzuschaffen? In seiner jetzigen, konservativen Form, die nicht mehr zeitgemäß ist, bekämpft er sich selbst. Denn der nicht reformierbare Islam in seiner politischen Ausprägung steht der universalen Ethik des mekkanischen Koran diametral gegenüber. Die islamische Welt benötigt nicht nur dringend eine sexuelle Revolution, die Frauen und Männer als gleichberechtigt anerkennt, sondern auch eine Islam- und Selbstkritik auf der Grundlage der Vernunft, die den Weg für die Etablierung eines modernen und humanistischen Islam ebnet. Denn: Auf einen kritikunfähigen, unaufgeklärten und frauendiskriminierenden Islam kann die Aussage „Der Islam gehört zum Westen“ niemals zutreffen.
I I. D E R P A T H O L O G I S C H E Z U S T A N D D E R I S L A M I S C H E N I D E N T I T Ä T
Liebe Muslime, versuchen wir gemeinsam die Augen für einen Augenblick zu schließen. Und nun stellen wir uns unseren islamischen Alltag einmal so vor: keine Autos, keine Züge, keine Flugzeuge, kein Internet, keine Handys, kein Telefon, kein PC, keine Elektrizität. Wir sind uns einig: Ein solcher Alltag wäre ziemlich trist. Nun machen wir gemeinsam die Augen wieder auf und stellen uns die Frage, was unser Beitrag im Laufe der Menschheitsgeschichte bei all diesen Innovationen war. Ohne etwas zu beschönigen, würde die Antwort lauten: Nichts! Gleichzeitig sind wir uns wahrscheinlich einig in dem Befund, dass sich der Islam und wir Muslime uns zurzeit in einer Sinnkrise befinden. Man denke nur an den Dschihad, den Terror und den Fanatismus des politischen und konservativen Islam, der die Gottesherrschaft auf der Erde mit Gewalt durchsetzen will – koste es, was es wolle.
Der Islam hat mit diesen Gräueltaten nichts zu tun – so lautet der Konsens der meisten Muslime in der Welt. Die Täter seien keine Muslime, sie hätten die Lehren der kanonischen Quellen des Islam nicht verstanden oder nicht richtig in die Tat umgesetzt. Die Ideologie der Islamisten habe nichts mit dem Islam zu tun, denn der Islam sei die Religion des Friedens. Viele Vertreter solcher Thesen vergessen, dass die Islamisten nicht in Synagogen, Kirchen oder buddhistischen Tempeln beten, sondern in Moscheen. Ihre Gebetsrichtung ist nicht Jerusalem oder Rom, sondern Mekka, die Heilige Stadt aller Muslime.
Selbstverständlich hat das Weltbild der Islamisten mit dem Islam zu tun, ob diese nun gewalttätig sind oder nicht, sonst hätte sich der islamistische Islam niemals so rasch und erfolgreich in der Welt ausbreiten können. Die erwähnte Apologie scheint vielfach wohlmeinend, ist allerdings unaufrichtig. Sie gibt die Naivität und die Bequemlichkeit ihrer Vertreter preis. Es handelt sich dabei um frommes Wunschdenken, das der Realität jedoch nicht entspricht.
Fest steht, dass nicht alle Muslime Terroristen sind. Fest steht jedoch auch, dass die Terroristen Muslime sind – solche, die sich sogar für die besseren Muslime halten und für sich beanspruchen, nach dem Koran und der Tradition des Propheten zu leben. Schließlich dienen den heutigen Islamisten in der ganzen Welt als Handlungsanleitung der in Medina offenbarte Koran (622–632)8 und das politische Handeln des Propheten selbst als Staatsmann – somit also die kanonischen Quellen der islamischen Rechts- und Religionslehre. Darüber hinaus wird der islamistische Terror durch eine gewalttätige, theologisch begründete Ideologie untermauert, die als eine Rezeption der Ideengeschichte islamischer Gewalt gelten muss.9 Wohl gibt es auch soziale, wirtschaftliche, politische und psychologische Gründe für die heutige Gewalt im Islam. Jedoch spielen die theologischen Grundlagen eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Legitimation dieser Gewalt oder etwa bei der Unterdrückung von Frauen. Auch wenn