Reform des Islam. Abdel-Hakim Ourghi

Reform des Islam - Abdel-Hakim Ourghi


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der Islam in einem pathologischen Zustand befindet. Wo anderes behauptet wird, dort wird diese Tatsache bewusst verdrängt.

      Nach der napoleonischen Invasion in Ägypten (1798–1801), die als Wendepunkt im kollektiven Bewusstsein der Muslime haften blieb, spürten einige Gelehrte die Notwendigkeit, den Islam zu erneuern. Die koloniale Invasion war ihnen ein Zeichen dafür, dass sich nicht nur die islamische Welt und ihre Gesellschaften, sondern auch der Islam selbst in Stagnation befanden, während gleichzeitig Europas Stärke und Macht immer weiter zunahmen. Diese historische Begegnung der islamischen Kultur mit der westlichen Zivilisation führte zu einer kulturellen Identitätskrise. Der Islamwissenschaftler Reinhard Schultze meint, dass ganze Jahrhunderte arabischer und islamischer Geschichte auf einmal „funktionslos und inhaltsleer“ schienen.10 Im Jahr 1930 schrieb der syrisch-libanesische Autor Schakib Arslan ein Buch mit dem Titel Warum sind die Muslime zurückgeblieben, und warum kamen andere voran? Diese herausfordernde Frage stellt sich heute mehr denn je. Sie hat nichts von ihrer Aktualität verloren, denn auch heute erleben Muslime eine ähnlich geartete Sinnkrise.

      Im Jahre 2002 bescheinigte der Autor Abdelwahab Meddeb dem Islam in seinem Buch La maladie de l᾿Islam (Die Krankheit des Islam) einen pathologischen Zustand.11 Diese, vom Islam selbst hervorgebrachte Krankheit bedarf mehr denn je eines innerislamischen Therapieprozesses auf der Basis eines Aufklärungsprogramms. Noch pointierter formuliert Meddeb seine These, dass es sich bei der Krankheit, von welcher der Islam befallen ist, um eine hausgemachte handelt, in einem anderen Buch:

      „Nicht der Islam ist eine Krankheit, sondern er bringt Krankheit hervor. Diese These des Essays trifft den Nagel auf den Kopf: Der Islamismus ist eine vom Islam hervorgebrachte Krankheit.“12

      Meddebs Aussagen mögen zunächst drastisch und übertrieben erscheinen, doch indem er den Islamismus als ein religiöses Produkt des medinensischen Koran und der Tradition des Propheten benennt, spricht er lediglich schonungslos die Wahrheit aus.

      Bei der oft beschworenen frühislamischen Glanzzeit, aus der viele Muslime ein Überlegenheitsgefühl anderen gegenüber schöpfen, handelt es sich um pure Nostalgie – ein leeres Konstrukt, welches der heutigen Realität des Islam schlicht nicht entspricht. Das Weltbild dieser Muslime ist durch Herrschsucht, Zerstörungslust, Radikalität und Gewalt gekennzeichnet. Man kann sogar vom „radikalen Bösen“ im Sinne Kants sprechen,13 wenn man die Chronologie der Gewalt betrachtet, welche sich nicht nur durch die ganze Frühgeschichte des Islam, sondern bis hin zum heutigen Tag zieht.

      Horrormeldungen über islamistischen Terror gehören heute weltweit zum Alltag der Menschen. Auch wenn diese Wahrheit uns unangenehm sein mag: Es vergeht inzwischen kaum ein Tag, an dem nicht exzessive Gewalttaten von muslimischen Tätern im Namen ihres Glaubens begangen werden. Die Massivität des islamistischen Terrors scheint sich seit dem 11. September verselbständigt zu haben. Die Opfer sind zwar in der Mehrheit Muslime, es trifft aber auch Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften. Schauplatz des islamistischen Terrors sind nicht nur Länder in der islamischen Welt, sondern längst auch westliche Metropolen, in die der Tod zumeist von dort aufgewachsenen Muslimen getragen wird. Die Botschaft der radikalen Islamisten lautet stets: „Ihr seid unsere Feinde, solange ihr so seid, wie ihr seid.“

      Mit dem islamistischen Terror hat eine neue Ära der Gewalt im Westen begonnen, ein Protest gegen die westliche Rationalität, Freiheit und Individualität, die als Entfremdung vom rechten Weg empfunden werden. Der Islamismus hat den Westen zu seinem Feind erklärt, und zwar vor allem unter Berufung auf die Lebensweise der Menschen im Westen. Die Islamisten wollen die „satanischen“ Andersdenkenden oder Andersgläubigen auslöschen und die Erde unter der Flagge des Islam vereinen. Wer sich dieser Mission anschließt, wird zu den Geretteten gehören, wer nicht – auch wenn er Muslim ist –, ist zu bekämpfen. Alles, was sich nicht der Herrschaft Gottes im Namen des Islam unterordnet, gilt den Islamisten als verdorben und amoralisch, als Teil einer „Zeit der Unwissenheit“ (ğāhiliyya), Koran 5:50). Dieser Terminus wiederholt sich viermal im medinensischen Korantext (Koran 3:154, 5:50, 33:33 und 48:26) und bezeichnet die Zeit vor der Verkündung des Islam im 7. Jahrhundert, die allgemein als ein „dunkles Zeitalter“ dargestellt wird und damit als Negativfolie, vor der sich der Islam mit seiner mission civilisatrice strahlend abhebt.

      Selbstverständlich sind die Islamisten nur eine kleine Minderheit unter den Muslimen. Auf individueller und kollektiver Ebene beteuern Muslime mit Nachdruck, dass der Islam instrumentalisiert und zu Ideologiezwecken missbraucht wird. Solche Distanzierungen sind allerdings nichts weiter als Lippenbekenntnisse. Die gleichen Koranverse, die sogenannten Schwertverse aus der medinensischen Epoche (Koran 2:191, 4:76, 4:79, 4:91, 9:5, 5:33, 9:12, 9:29 und 9:36), mit denen die Islamisten ihre exzessiven Gewalttaten zu legitimieren versuchen, werden in vielen Moscheen bei Predigten zitiert. Möglicherweise sind sich viele Prediger der Tatsache nicht bewusst, dass eben diese Verse die Grundlage der Radikalisierung jener Jugendlicher sind, die in den „heiligen Krieg“ ziehen. Auch viele Aussagen des Propheten, wie etwa: „Mir wurde befohlen, die Menschen zu bekämpfen, solange sie sich nicht zum Islam bekennen“, sind in den Freitagsgebeten immer wieder zu hören. Der Korantext und die Tradition des Propheten sind nun mal das gemeinsame sinnstiftende Identifikationsmerkmal aller Muslime. Als kanonische Quellen bilden sie nicht nur die Grundlage für die religiöse Zugehörigkeit, sondern auch die Basis für das kollektive Gedächtnis aller Muslime über die konfessionellen Grenzen hinweg. Insbesondere der Koran wird von vielen Muslimen memoriert. Er ist im Alltag der Muslime multimedial präsent und gilt als eine religiöse Brücke zwischen seiner historischen Entstehungssituation im 7. Jahrhundert und der Gegenwart.14

      Der Gelehrte Ibn Taimiyya (1263–1328), Theologe und Inspirator des modernen Salafismus konservativer Auslegung, berief sich beispielsweise auf solche Koranverse und deklarierte damit den heiligen Krieg als kollektive Pflicht. Ihm zufolge war der Islam – wenn nötig – auch mit dem Schwert zu propagieren. Sayyid Quṭb (1906–1966)15, Ahnherr aller heutigen Extremisten, rechtfertigte Gewaltanwendung damit, dass unsere Zeit mit der vorislamischen, heidnischen Epoche vor der Islamverkündung gleichzusetzen sei. Unter Berufung auf Sure 3, Vers 85, in welcher allein der Islam als wahrer Glaube anerkannt wird, verdammt Quṭb alle Anhänger anderer Religionen als Ungläubige, die zu bekämpfen seien. Heute wird er von einigen muslimischen Gelehrten wegen seiner Gelehrsamkeit und seines gewaltigen Opus grenzenlos verehrt, von anderen Muslimen wegen seiner zum Teil extremistischen Ansichten mit Skepsis betrachtet.

      Die Muslime müssen den Mut haben zu gestehen, dass der Islam in vielen Punkten versagt hat. Der Islam steht heutzutage für Sexismus (Koran 2:282 und 4:34), Homophobie (Koran 17:32 und 11:77–83), Gewalt (Koran 9:29 und 5:33) sowie die Ausgrenzung anderer Religionszugehöriger und Andersdenkender (Koran 1:6–7, 2:120 und 3:85). Dieselben Koranverse sind gleichermaßen Fundament des friedlichen und des gewalttätigen Muslims. Besonders die drei letzten erwähnten Suren bieten Anknüpfungspunkte für Gewalt. Diese radikalen Koraninhalte dürfen nicht mehr verharmlost oder ignoriert werden. Aus ihnen entspringt, was Pierre Bourdieu als „symbolische Gewalt“ bezeichnet hat. Symbolische Gewalt operiert dezent und alltäglich und sichert die Anerkennung von Herrschaftsordnungen. In den in Medina offenbarten Teilen des Koran findet sich ein ganzes Sündenregister von Juden, Christen und arabischen Heiden, das letztendlich als Rechtfertigung für den bewaffneten Umgang des Propheten mit diesen Gruppen dient. Durch die tägliche Rezitation dieser Verse legitimieren viele Muslime bis heute unbewusst religiöse Gewalt. Davon könnte sich der Islam durch eine Reform seiner Quellen – insbesondere des medinensischen Koran – emanzipieren. Eine solche Reform ist dringender denn je. Es genügt nicht zu behaupten, dass der Islam eine Religion des Friedens ist. Wir müssen ihn auch dazu machen. Alles andere trägt lediglich zu seiner postfaktischen Verklärung und Idealisierung bei.

      Im Islam wird zu wenig hinterfragt und vieles ohne Reflexion hingenommen. Besonders die in den muslimischen Gemeinden im Westen vermittelte Religion ist realitätsfremd, nicht zukunftsfähig und unterliegt einer Pädagogik der Unterwerfung. In den hiesigen Moscheen wird permanent eine Religiosität des Verwerflichen gepredigt. Import-Imame und die Wortführer konservativer Politikorganisationen lehren einen starren Katalog von Gut und Böse. Ihr religiöser Diskurs definiert sich einzig durch die Abwertung der Anhänger anderer Religionen, nicht durch die differenzierte Auseinandersetzung mit den eigenen Werten. Ihre Predigten


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