Reform des Islam. Abdel-Hakim Ourghi

Reform des Islam - Abdel-Hakim Ourghi


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im Alltag der Muslime. Obwohl Geschichte nie abgeschlossen ist und in Übereinstimmung mit der Gegenwart immer wieder neu reflektiert und gedeutet werden muss, beansprucht im Islam eine kleine Gruppe konservativer Gelehrter die alleinige Deutungshoheit über die Vergangenheit für sich. Die Mehrheit der Muslime identifiziert sich blindlings mit dem von dieser Gruppe vorgegebenen kulturellen Erbe und hat offenkundig Schwierigkeiten damit, dieses kritisch infrage zu stellen. In der Folge leben sie zwar körperlich in der heutigen Zeit, denken jedoch im Geist des 7. Jahrhunderts. Viele träumen sogar von der Rückkehr zum Islam der Anfangszeit.

      Bis heute bestreitet die Mehrheit der Muslime, dass die Gewalt etwas mit den Lehren des Islam zu tun hat. Gezielt wird die Gewalt zu Lebzeiten des Propheten, dessen Gemeinde als Vorbild für alle Muslime gilt, gegenüber den nichtmuslimischen Gesellschaften Europas völlig ausgeblendet. Es wird bewusst eine Dynamik des Verdrängens in Gang gesetzt, welche die Entstehung des Islam verklärt und idealisiert. Doch die Muslime sind sowohl das, was sie erinnern, als auch das, was sie vergessen wollen. So dienen den Islamisten als Handlungsanleitung einige medinensische Koranpassagen und das politische Handeln des Propheten selbst, somit kanonische Quellen der islamischen Rechts- und Religionslehre. Darüber hinaus beruft sich der islamistische Terror auf eine gewalttätige, theologisch gut fundierte Ideologie, die als Rezeption einer Ideengeschichte der Gewalt im Islam gelten muss. Man kann es nicht leugnen: Der gegenwärtige Islam wird von seiner gewalttätigen Vergangenheit heimgesucht.

      Weder die kanonischen Quellen des Islam noch die Ideengeschichte der islamischen Wissenstradition sind selbstevident, sie alle bedürfen einer kritischen Auslegung. Die gegenwärtige Selbstbestimmung der Muslime kann allein durch eine zeitgemäße Auslegung der eigenen Ideengeschichte vollzogen werden. Muslimische Identitätsfindung in der Gegenwart, insbesondere im westlichen Kontext, kann nicht gelingen, wenn man sich dabei allein auf eine sakrosankte Interpretation der islamischen Vergangenheit bezieht. Anhand der kritischen Auseinandersetzung mit den kanonischen Quellen und der Wissenstradition des Islam ergeben sich hingegen vielfältige Möglichkeiten der Interpretation der eigenen religiösen Identität bei zeitgleicher Zugehörigkeit zu einer neuen Kultur. Diese Vorgehensweise kann Pluralität unter den Muslimen schaffen.

      Ein gebildeter Muslim versteht, dass er historische Texte nicht neutral interpretieren kann. Er deutet sie immer im Kontext seiner jeweiligen Lebenssituation. So entdeckt er nicht nur seine religiöse Identität, sondern definiert diese anhand seiner Interessen und gemäß seiner Lebenswirklichkeit im Westen. Seine ererbten Werte müssen unbedingt mit den jeweiligen Werten der westlichen Kultur abgeglichen werden. Die Muslime im Westen können sich und ihre Lebenswelt besser verstehen, wenn sie sich nicht nur mit der Geschichte des Islam beschäftigen, sondern auch mit der Kultur, an der sie teilhaben. Nur ein kritisches und selbstreflektierendes Verstehen der islamischen Tradition ist geeignet, die gegenwärtige Existenz der Muslime zu bereichern. Besonders die Vielfalt der zeitgenössischen Lesarten des Koran ermöglicht es den Menschen, den Islam selbst neu zu verstehen, zu entdecken und ihre religiöse Identität mit den Grundsätzen der westlichen Kultur zu versöhnen. Nur so können die Muslime im Westen ein integrativer Bestandteil ihrer jeweiligen Gesellschaft werden und sich von der nostalgischen Erinnerung an das 7. Jahrhundert verabschieden – die Zeit der historischen Entstehung des Islam, die jedoch nichts anderes als eine kollektive Erinnerung ist. Ihre Zugehörigkeit zum Islam wird dann zur privaten Sache, primär sind sie nun Bürgerinnen und Bürger des Landes, in dem sie leben. Dieser Weg kann zu einer neuen muslimischen Identität im Westen führen. Nennen wir diese Identität einen „europäischen Islam“.

       Erst die Interpretation macht sie lebendig.

      Die Muslime müssen sich der Tatsache bewusst werden, dass sie mit dem Koran und der Tradition des Propheten als kanonische Quellen nicht mehr dort stehen, wo der Prophet Muḥammad damals im 7. Jahrhundert stand. Der Islam der ersten Gemeinde des Propheten (610–661) hat sich im Laufe der Jahrhunderte weiterentwickelt. Entsprechend ist der Korantext Gegenstand eines nie abgeschlossenen Interpretationsprozesses, der sich immer an die jeweilige Lebensrealität des Interpreten anpassen muss. Er lässt sich zu jedem Zeitpunkt unterschiedlich interpretieren. Die Interpretation befreit die Texte der islamischen Kultur von ihrer Leblosigkeit, ja mehr noch: Sie werden durch das Vorwissen der heutigen Muslime um neue Sinngehalte bereichert. Dies bedeutet aber auch, dass der Koran ohne Einbeziehung des gegenwärtigen Kontexts keinen Wert hat. Nur eine humanistische Lesart des Korantextes kann einen konstruktiven Beitrag zur Etablierung eines modernen Islam in einem westlichen Kontext leisten, indem sie sich auf das reflektierende und kritische Verstehen beruft und die Freiheit der Interpretation betont. Eine Deutungshoheit bestimmter Gruppen besteht nicht.

      Die westliche Islamwissenschaft konzentriert sich bis heute zum größten Teil ausschließlich auf die Frage der geschichtlichen Genese des Korantextes. Allein seine Vorgeschichte und seine Redaktion sind zentrale Themen, ebenso wie die jüdischen, christlichen und anderweitigen Einflüsse auf den Koran. Womöglich mit der Absicht, die Originalität des Koran als Offenbarungsbuch in Zweifel zu ziehen, bewegt sich die westliche Koranwissenschaft methodisch zwischen der historischen und der rezeptionsgeschichtlichen Analyse. Man wollte bisweilen nichts anderes, als die Heilige Schrift der Muslime als eine epigonale Reprise des Gedankenguts aus dem Alten und Neuen Testament zu beschreiben. Demnach wäre der Koran nichts anderes als ein nachbiblisches Werk im Sinne eines Fortschreibungstextes, der von Muḥammad verkündet wurde.

      Bewusst will man seinen Status als Gottes Wort in Form einer Offenbarung nicht anerkennen. Diese Haltung, inzwischen auch vertreten durch die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth, scheint ihre Wurzeln in der historischen Rezeption des Korantextes durch Nichtmuslime zu haben. Das harte Verdikt einer Epigonalität des Koran zu anderen heiligen Schriften in der westlichen Islamwissenschaft der Gegenwart erinnert an die Anfänge des klassischen Orientalismus. Bereits der orthodoxe Theologe und Kirchenvater Johannes von Damaskus (gest. um 750), der etwa ein Jahrhundert nach dem Tod des Propheten wirkte, stellte Muḥammad im zweiten Teil seines theologischen Werkes Quelle der Erkenntnis über die Häresien (De Haeresibus) als falschen Propheten und Vorläufer des Antichristen dar. Als erster Gelehrter betrachtete er den Islam nicht als eine eigenständige Religion, sondern bezeichnete ihn als eine christliche Denomination mit gewissen Irrlehren und klassifizierte ihn somit als jüngste unter den christlichen Häresien. Diese Denkart setzt sich bis in die Gegenwart der westlichen Islamwissenschaft fort.

      Eine solch verzerrte Rezeption hat zwei Konsequenzen: Erstens wird der Korantext allzu häufig aus seinem aktuellen Kontext herausgerissen behandelt, ganz zu schweigen von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit seinen Themen. Während also der Historizität des Koran ungleich viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, interessiert sich die westliche Islamwissenschaft kaum für dessen Inhalte. Zweitens ist die Frage nach der Urheberschaft des Korantextes, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk der westlichen Koranwissenschaftler zieht, in der Islamwissenschaft zentral. Und bis heute schreiben die Vertreter dieses Faches die Autorenschaft dem Propheten Muḥammad zu. Damit will man nichts anderes, als dem Koran seine Natur als Gottes Wort abzusprechen und ihn stattdessen zu einem Machwerk des Propheten zu erklären – stets einhergehend mit dem impliziten Vorwurf, Muḥammad habe beim Verfassen des Koran aus anderen heiligen Schriften abgeschrieben.

      Ein unmittelbares Indiz für die Autonomie des Koran von seinem historischen Ursprung ist der Korantext selbst. Nicht nur die Prozessualität der Textgenese bei seiner Verkündung, sondern auch seine kommunikative Sprachstruktur verleihen dem Koran als Text eine gewisse Originalität und Eigenständigkeit, die ihn nicht unmittelbar mit anderen heiligen Schriften vergleichen lässt. Seine vielgestaltigen Redeformen und Sprachakte bezeugen deutlich eine große literarische Partitur, welche eine immer wieder neue Lektüre des Korantextes ermöglicht und legitimiert. Als selbstreferentieller Text mit einer interpretativen Fortschreibung seiner selbst in Form eines Korantextwachstums verhält sich der Korantext in seiner stilistischen und sprachlichen Intention wie ein literarischer Text, welcher seinen eigenen Inhalt und seine eigene Sprachform zum Gegenstand macht. Er wiederholt sich nicht nur, sondern kommentiert sich ständig selbst und bereichert seine Themen mit neuen sprachlichen und inhaltlichen Informationen.

      Der Leser entdeckt einen Wandlungsprozess durch


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