Letzte Schicht. Dominique Manotti

Letzte Schicht - Dominique  Manotti


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      Aïsha liegt im Dunkeln, in einer Kabine des Sanitätsraums. Ihr Band steht still, aus Pondange sind eilig Elektriker gerufen worden, die es gerade reparieren. Der Werkmeister hat gesagt, bei der zweiten Schicht ist alles wieder in Ordnung. Und die Mädchen vom Band gegenüber, auch Rolande, sind schon wieder an der Arbeit. Die Arbeit. Aïsha wird flau. Zwischen diesen Blechwänden, weiß in dem Lichtblitz, vibrierend vom Schrei, Émiliennes Körper, wie er zwei Meter von ihr entfernt nach hinten kippt, stocksteif, in den Stuhl verhakt. Und der andere Unfall, vor einem Monat, erst, vor mir der Körper ohne Kopf, endlos lang aufrecht, bevor er zusammenbricht, das Blut, das stoßweise aus dem Hals hervorschießt, das warme Blut auf meinen Händen, im Gesicht, ich bin verflucht. Vergiss. Vergiss. Denk an was anderes. Ich will nicht vor dem normalen Schichtende heim. Zu Hause mein Vater und all seine Fragen. Warum bist du nicht in der Fabrik. Ich erzähl ihm nichts. Kein Wort. Es ist nichts passiert. Ich kann nicht mehr reden.

      Maréchal schiebt den Vorhang vor der Kabine beiseite, kommt fast auf Zehenspitzen herein. »Wie fühlen Sie sich, Mademoiselle Saïdani?« Keine Antwort. »Ich verstehe, dass das ein Schock für Sie war. Aber die Krankenschwester sagt, es geht Ihnen schon viel besser.«

      Plump, der fette Maréchal. Ungeschickt. »Was wollen Sie?«

      »Es ist so. Madame Lepetit ist rauf zur Direktion, und da Sie die Einzige der anderen Reihe sind, die in der Fabrik geblieben ist, habe ich mich gefragt, ob Sie wohl bereit wären, sie zu vertreten. Solange sie weg ist. Dürfte nicht lang dauern.«

      Aïsha setzt sich abrupt auf. Gleich wieder zwischen den Blechwänden sitzen, am Fließband, unter Neonröhren und herabhängenden Kabeln, gleich wieder den Werkzeuggriff umfassen heißt dem Tod gegenübertreten. Doch ob heute oder morgen … Die Mädchen um mich herum aber, sie halten zusammen, ihre Augen haben gesehen, was ich gesehen habe. Wenn ich die Wahl hab zwischen dem Band und zu Hause mit meinem Vater, wähle ich das Band. Und es ist ja für Rolande. »Okay.«

      »Die Krankenschwester wird Ihnen ein leichtes Stärkungsmittel geben.«

      In den Räumlichkeiten der Verwaltung bemüht sich Rolande, aufrecht und langsam zu gehen. Sicher wird man mich zu dem Unfall befragen. Das wird nicht einfach. Weil ich jetzt vor allem erst mal vergessen muss, alles, für ein paar Tage, bis ich meine Angst im Griff habe. Aber jetzt gleich darüber reden, na ja … Ich muss um ein paar Ruhetage für die Schicht bitten. Rückblende: die fahlen Gesichter der Mädchen vor den Blechwänden. Der Schock war zu groß. Das muss ich denen klarmachen. Die Worte finden … und ich werde erfahren, was mit Émilienne ist. Fehlgeburt? Tot? Rechne mit dem Schlimmsten und verlier bloß nicht die Nerven vor »den anderen«.

      Sie wird sofort ins Büro des Personaldirektors höchstselbst geführt. Sieht ihn zum ersten Mal. Taxiert ihn mit einem Blick. Ein Bürschchen. Ein Lackaffe. Nicht mein Typ.

      »Madame Lepetit, ich habe Ihnen nicht viel zu sagen. Nach dem unerhörten Benehmen, das Sie sich gegenüber Monsieur Maréchal, dem Werkmeister Ihrer Abteilung, erlaubt haben, sind Sie wegen groben Fehlverhaltens entlassen, und zwar mit sofortiger Wirkung. Es ist Ihnen nicht gestattet, an Ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Man wird Sie zur Umkleide begleiten, damit Sie Ihre persönlichen Sachen holen können, und dann zum Ausgang. Den ausstehenden Lohn erhalten Sie morgen.«

      Innerer Absturz, alles verschwimmt, kein Wort, kein klarer Gedanke, nur Bilder, heftige Empfindungen, der Blitz, das grelle Licht, der Schrei, der Geruch, die Angst, und dann noch das Lächeln meines Sohnes in seiner Internatsuniform, meine Mutter, stockbesoffen, auf dem Küchenboden eingeschlafen, wer kommt für sie auf? Arbeit, Schmerzen, zerschundener Körper, steife Hände, das ist hart, stimmt schon, aber keine Arbeit? Morgen auf der Straße sitzen, unter der Brücke?

      Ohne dass es ihr richtig bewusst ist, hat man sie hinaus auf den Flur geschoben, sie lehnt an der Wand, mit geschlossenen Augen, Schwindel, Brechreiz. Als sie die Augen wieder öffnet, steht Ali Amrouche vor ihr, er hat ihre Hände genommen, tätschelt sie mit besorgtem Blick. Amrouche, der Betriebsrat, der sich immer in den Fluren der Direktion herumdrückt.

      »Rolande, fühlst du dich nicht gut? Sag doch was, Rolande.« Er legt ihr eine Hand auf die Schulter, eine Geste, die er noch nie gemacht, nie zu machen gewagt hat, Rolande, das heißt Respekt, aber bei so viel Verzweiflung.

      Sie spürt die warme Berührung dieser Hand auf ihrer Schulter, das tut ihr gut, nicht mehr so allein, und die Worte kommen wieder, erst stockend, sie lehnt sich an ihn, lässt den Worten freien Lauf, erzählt, immer flüssiger jetzt, von dem Unfall, ausführlich, von jedem einzelnen Handgriff, von Émiliennes Körper, eiskalt und steif, ich hab den Tod berührt, Ali, von dem Gefühl der Ohnmacht, weil sie die rettenden Handgriffe nicht kennt, von den starken Wehen und den ersten stöhnenden Lauten, wie ein unendlicher Schmerz und zugleich eine Hoffnung, es war fast, als hätte dieses sterbende Baby seine Mutter wieder zum Leben erweckt. Mit den Worten kommen die Tränen, welche Erleichterung. Und sie haben mich entlassen, Ali, weil ich Maréchal eine geknallt habe. Anflug eines Lächelns. Für den Preis hätte ich ihn gleich umbringen sollen, den fetten Maréchal.

      »Ich bringe dich nach Hause, Rolande, und gehe dann gleich zur Direktion. Das kann nicht sein, das ist ein Irrtum. Das muss ein Irrtum sein.«

      »Nein, danke. Begleite mich zum Ausgang, das wird mir guttun. Nach Hause geh ich allein, ist nur ein Katzensprung.«

      Im Büro des HR-Managers versucht Ali Amrouche, diesem die Lage auseinanderzusetzen.

      »Sie können Madame Lepetit nicht entlassen. Keiner in der Fabrik wird das hinnehmen. Sie ist eine tapfere Frau. Alle schätzen sie. Und jeder hier weiß, dass sie allein für ihren Sohn und ihre mittellose Mutter sorgt. Und der Unfall, der heute Morgen in ihrer Abteilung passiert ist, hat uns alle erschüttert.«

      »Nicht sie ist zu Schaden gekommen, sondern Madame Émilienne Machaut, die übrigens wohlauf ist, wie ich Ihnen bei dieser Gelegenheit mitteilen kann.«

      »Und das Baby?«

      »Fehlgeburt. Das kommt vor. All das rechtfertigt in keiner Weise das Verhalten von Madame Lepetit, die ihren Werkmeister tätlich angegriffen hat.« Er streckt den Oberkörper, zieht die Schultern nach hinten. »Ich bin hier, um Ordnung und Disziplin wiederherzustellen, womit es in diesem Betrieb nicht weit her ist. Ich werde dieses Verhalten nicht durchgehen lassen.«

      Der HR-Manager schiebt eine Akte von einer Stelle seines Schreibtischs an eine andere, tippt ans Telefon, verschränkt die Hände.

      »Monsieur Amrouche, mein Vorgänger hat Sie mir als einen Mann der Vernunft beschrieben, einen Mann des Kompromisses, der die Dinge richtig einzuordnen weiß. Daher liegt mir daran, Sie als Ersten zu informieren. In einer Woche kommt der Betriebsrat zusammen, und da wird die Angelegenheit der seit neun Monaten nicht gezahlten Prämien erneut zur Sprache kommen. Würde das Unternehmen diese Prämien heute zahlen, würde dies in Anbetracht der ausstehenden Summen sein finanzielles Gleichgewicht gefährden, das, wie Sie wissen, immer noch fragil ist, mit all den Risiken einer Schließung, die das mit sich brächte. Die Direktion wird daher vorschlagen, und wenn ich sage vorschlagen, wissen Sie, was ich damit meine, die Prämien für dieses Jahr zu streichen und erst ab kommendem Januar zu zahlen.« Er löst seine Hände voneinander, zieht die Brauen hoch. »Wir haben uns die Konten gründlich angesehen. Es gibt keine andere Lösung. Und damit alle das akzeptieren, zählen wir auf Leute wie Sie.«

      Amrouche sieht den HR-Manager an. Was kann der schon verstehen? Erschöpfung. Wie ihm von der Armut, dem Leid, der Angst erzählen und davon, dass Aufruhr, Wut und Hass am Lodern sind und es den hübschen Herrn mit seinen hübschen Schuhen in Stücke reißen wird?

      »Ist Maréchal mit der Entlassung von Rolande Lepetit einverstanden?«

      Der HR-Manager erhebt sich und dreht sich zum Fenster. »Das Gespräch ist beendet.«

      Amrouche ist einen Kaffee trinken gegangen, ganz allein am Tisch in der leeren Cafeteria, und brütet vor sich hin. Was für ein arroganter Flegel, dieser HR-Manager. Mein Vorgänger hat mir von Ihnen erzählt. Und dann lässt er zwei Bomben platzen und merkt’s nicht mal. Was mache ich jetzt? Sie sind doch ein Mann der Vernunft. Ja und? Das mit den Prämien kann bis zur Betriebsratsversammlung


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