Letzte Schicht. Dominique Manotti

Letzte Schicht - Dominique  Manotti


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Étienne stellt die beiden heißen Becher auf einen Pappteller, nimmt Aïsha bei der Hand und durchquert mit ihr die große Werkhalle der Fabrik, menschenleer, schwach erleuchtet vom trüben Tageslicht und der orangen Sicherheitsbeleuchtung. Tiefe Stille. So anders, ein bisschen seltsam. Aïsha entzieht ihm nicht ihre Hand. In der Verpackung, einem großen, luftigen Raum, knipst Étienne eine Neonröhre an, bleibt aber nicht stehen – weder bei den Maschinen, fremd in ihrer Reglosigkeit, noch bei den Holz- und Styroporlagern, dabei sind die doch ganz dekorativ, noch bei dem Förderband, auf dem die verpackten Bildröhren zur Decke empor und ins Lagerhaus schweben. Er zieht Aïsha zu einem alten Holzschreibtisch, der verlassen in einem Winkel der Werkstatt steht, und stellt die Kaffeebecher darauf ab.

      »Hier können wir in der Pause etwas essen, die Cafeteria ist zu weit weg, man verliert zu viel Zeit. Und jetzt guck.« Stolz. Er öffnet eine Schublade, ein Gasbrenner kommt zum Vorschein. Nächste Schublade, eine Kaffeemaschine. Die Rückwand des Schreibtischs lässt sich aufschieben, dahinter: ein kleiner Kühlschrank und ein Fernseher. »Der Fernseher ist nur für die Nachtschicht.« Lachen. »Was den Rest betrifft, haben wir eine Abmachung mit Maréchal, dass er während der Pause nicht in die Werkstatt kommt.«

      Sie trinken schweigend. Aïsha fährt mit dem Finger über die Flecken und Kerben auf der Schreibtischplatte. Ein Stück Freiheit, das die Männer ganz für sich allein haben, hier mitten in der Fabrik. Die Werkstatt der Frauen auf der anderen Seite der Blechwand: ein anderes Leben. Das Unglück, eine Frau zu sein.

      »Du hast noch nicht alles gesehen.« Étienne setzt sie auf einen der Hocker. »Mein Arbeitsplatz, aber eigentlich steht man oft, man bewegt sich viel.« Er öffnet die obere Schreibtischschublade, breit, tief, flach, vollgestopft mit Besteck und diversen Korkenziehern, holt ein Brettchen hervor, das ganz hinten steckt, sowie einen Tabakbeutel und Zigarettenpapier. »Ein kleiner Joint, ist schnell gemacht.«

      »Ich rauche nicht.«

      »Das ist keine Zigarette, das schadet nicht.« Seine Hände arbeiten im Eiltempo, einmal lecken, Feuerzeug, er nimmt einen ersten Zug, einen tiefen, lächelt, reicht ihr den Joint.

      Tohuwabohu in ihrem Kopf, Émilienne, Rolande, der Streik, Étiennes Hand in ihrem Haar, in ihrer Hand, ein Schauer überläuft sie, sie nimmt den Joint, führt ihn an die Lippen, inhaliert tief, Nase zu, Augen zu, wie sie es bei ihren Brüdern gesehen hat, schluckt den Rauch, gar nicht so stark, besser als ich dachte, atmet durch die Nase aus, ohne zu husten. Leises Wohlbefinden.

      »Ein echter Profi«, sagt Étienne lachend.

      Er löscht das Licht, die Werkstatt versinkt in gelblichem Halbdunkel. Aïsha wankt und zieht wild an ihrem Joint. Hört auf einmal wieder Émiliennes Stimme, wie sie sich in der Cafeteria vor Lachen biegt, als sie von ihrem »ersten Mal« erzählt, bäuchlings auf einer Mülltonne in einer Toreinfahrt, und es hat Bindfäden geregnet, Rolande lächelt ihr zu, nimmt sie am Arm, damit sie an einem anderen Tisch zu Ende isst. Ich hab nicht mal sein Gesicht gesehen, wiederholt Émilienne zwischen zwei Japsern. Und die Stimme ihres Vaters, rau, gekränkt, die Beschimpfungen, als sie nicht in sein Kaff zurückwollte, nicht mal in den Ferien, ich weiß, was dort passieren kann. Étienne kommt näher, mit langsamen Bewegungen, fasst sie am Arm, um die Taille, um ihr hochzuhelfen. Angst, aber danach ist es endgültig, ich geh nicht zu meinem Vater zurück. Er führt sie hinter einen Stapel Kisten. Ein Teppich.

      »Nourredines Gebetsteppich.«

      Er lächelt, kniet sich hin, sie setzt sich, fühlt sich, als schwebe sie, er löst ihr Haar, das ihr über die Schultern fließt. Sie denkt: vom einen Mann zum anderen, und legt sich mit geschlossenen Augen hin. Gedämpfte Dunkelheit und Stille, Étienne küsst sie auf die Wangen, die Augen, die Lippen, sie verkrampft sich, er gleitet zu ihrem Nacken, legt die Hand auf ihre Hüfte, wandert ihren Oberschenkel hinab, unter ihren Rock, Aïsha liegt reglos da, angespannt, das Herz klopft, die Hand fährt langsam wieder hoch zu ihrem Unterleib, wo sie verweilt, flach liegt sie da, warm, beharrlich. Aïsha wartet, gleich wird es geschehen.

      Dann geht alles ganz schnell. Étienne zieht seine Hose herunter, streift mit beiden Händen Aïshas Strumpfhose und Slip über ihre Knöchel, legt sich auf sie, dringt in sie ein, braucht zwei oder drei Anläufe, es schmerzt, hab schon Schlimmeres erlebt, sie ist seltsam weit weg, er beginnt sich zu bewegen, ein stechender Schmerz zerreißt sie, sie schreit auf, dann spürt sie nicht mehr viel, er stöhnt und wird erregter, grunzt ein letztes Mal und rollt ausgestreckt von ihr herunter, neben sie, das Gesicht in ihrem Haar, riecht angenehm sauber, Küsschen auf die Wangen, sehr lieb. Sie fühlt etwas Warmes ihre Schenkel hinabrinnen, lacht, als sie an die Flecken denkt, die sie auf Nourredines Gebetsteppich hinterlassen wird, diese Unbekümmertheit, ihr Leben beginnt sich zu ändern, und das ist gut.

      Die Abordnung kehrt in die Cafeteria zurück, ist sogleich dicht umringt. Ohne zu zögern steigt Nourredine auf den Tisch.

      »Zu den Prämien: Darüber wird in einer Woche mit dem Betriebsrat gesprochen. Vorher keinerlei Informationen. Angeblich ist noch keine Entscheidung gefallen. Aber der Personaldirektor hat’s nicht abgestritten. Wir glauben, sie wollen sie streichen und es bloß noch nicht sagen. Und wegen Rolande wird der Personaldirektor mit dem Betriebsrat sprechen, wenn wir die Arbeit wieder aufgenommen haben.«

      Hier und da fallen Schimpfwörter, Diebe, Dreckskerle, eine beleibte Dame mit Kraushaar bezeichnet die Chefs als Banditen. Und die große Frage: Was machen wir jetzt? Zunächst weiß keiner eine Antwort. Eine Woche Streik, bis der Betriebsrat zusammenkommt? Das ist lang. Und auch nicht der beste Moment, die Lager sind voll … Nourredine schlägt vor, auf die zweite Schicht zu warten, die in weniger als zwei Stunden kommt, und gemeinsam mit ihr zu entscheiden, ob der Streik verlängert wird oder nicht. Der Vorschlag klingt vernünftig, wird einstimmig angenommen.

      Die Gruppen verteilen sich. Einige spielen in der Cafeteria weiter Karten, andere machen in den Räumen des Betriebsrats Musik. Amrouche verkrümelt sich, will wahrscheinlich wieder um die Büros herumschleichen. Frauen stehen in Grüppchen um den Kaffeeautomaten und unterhalten sich, ein paar Mütter machen sich unauffällig davon, um mit der Wäsche voranzukommen, und zwei Männer brechen zum Pilzesammeln auf. Jetzt, wo die kalte Zeit beginnt, müssten sich doch Semmelstoppelpilze finden lassen.

      Nourredine sitzt auf einem Tisch, neben ihm Hafed, Arbeitnehmervertreter im Ausschuss Hygiene und Sicherheit, der bei der Abordnung dabei war, ein junger Techniker, schlank, elegant, spuckt gern große Töne, wird aber wegen seiner technischen Sachkenntnis sehr geschätzt. Einer von denen, die man mit Entlassungsdrohungen nicht beeindrucken kann. Er lebt – ob zu Recht oder nicht – in der Gewissheit, ein unentbehrlicher und gefragter Mann zu sein. Die beiden Männer kommen aus verschiedenen Welten und haben noch nie miteinander gesprochen, heute trinken sie zusammen Kaffee und empfinden die gleiche Machtlosigkeit.

      Eine Angestellte aus den Büros schlängelt sich so unauffällig wie möglich durch die Cafeteria, schiebt sich dicht neben Nourredine und raunt ihm zu: »Der Direktor hat eine Umzugsfirma bestellt, um die Fertigwarenlager räumen zu lassen. Ich habe den Dolmetscher gehört, er hat im Büro neben mir telefoniert, während eure Abordnung darauf gewartet hat, dass man sie empfängt.«

      Die beiden Männer sehen sich an, geben sich unwillkürlich die Hand und halten sie gedrückt. Beider Herz eine brennende Wunde. Angesichts dieser Missachtung möchten sie am liebsten schreien, schlagen, etwas zertrümmern, um zu spüren, dass es sie gibt. Und sie verstehen die Drohung genau, die sich hinter dieser Ohrfeige verbirgt: erst die Lager, dann die Maschinen und die Schließung der Fabrik, die Schließung, von der die Chefetage seit zwei Jahren ständig redet.

      »Das bedeutet Krieg«, murmelt Nourredine aufgelöst.

      Hafed lächelt. »Immer mit der Ruhe, so weit sind wir noch nicht, aber wir müssen uns überlegen, wie wir reagieren.«

      Auf der Stelle erneute Generalversammlung. Hafed berichtet in neutralem Ton. Die Reaktion ist einmütig und prompt: All das gehört uns mindestens so sehr wie denen. Hier aufs Werksgelände kommt kein Lkw. Kein Zögern, Schwanken, Sichverzetteln mehr, fast alle beteiligen sich jetzt an der Diskussion. Wie soll man die Sache anpacken? Die Zufahrtstore schließen. Und die Pforte besetzen, unerlässlich, wenn man das Öffnen und Schließen der Tore kontrollieren will.


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