Letzte Schicht. Dominique Manotti

Letzte Schicht - Dominique  Manotti


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kein Mangel. Wir besetzen, bis die zweite Schicht eintrifft, entscheidet Nourredine. Dann sehen wir gemeinsam weiter. Einhellige Zustimmung.

      Die Cafeteria leert sich, und etwa hundert Arbeiter, darunter vielleicht zehn Frauen, finden sich am Eingang zum Werksgelände ein. Zwischen Pforte und Gebäudefassade eine freie Fläche von etwa dreißig Metern, auf der das Gras kräftig – lothringisches Klima verpflichtet – und wild vor sich hin wächst. Hinter der getönten Spiegelglasfassade die Büros der Direktion. Chefs und leitende Angestellte, Koreaner und Franzosen, bestimmt sind sie alle dort und verfolgen aufmerksam das Geschehen. Sie sind nicht zu sehen, aber sie zu spüren ist belastend, man fühlt sich ungeschützt. Immerhin noch keine Lkws in Sicht, das ist schon ein kleiner Sieg, und vielleicht kommen ja auch keine, ein falsches Gerücht, gut möglich, man macht sich Mut, so gut man kann.

      Erkundung des Geländes. Zwei große Rolltore, die von der Pforte aus elektrisch bedient werden. Das rechte führt zum Personalparkplatz, der sich am rechten Werksflügel entlangzieht, das linke zum Lagerhaus und zu den Verladerampen für die Lkws. Rechts ein Törchen für die Fußgänger. Zwischen den beiden Toren die Pforte, ein Leichtbaukubus mit großen Fenstern. Da passen sicher zwanzig Leute rein. Im Augenblick befinden sich nur zwei Wachleute darin, die hinter der Scheibe die Arbeiter beobachten, ohne sich zu rühren.

      Dort muss man hinein. Inzwischen hat sich auch Amrouche mit undurchdringlicher Miene zu den Arbeitern gestellt. Die Abordnung formiert sich erneut und betritt das Pförtnerhaus. Wieder ergreift Nourredine das Wort. Wir besetzen, wir übernehmen die Kontrolle über das Öffnen und Schließen der Tore. Die Wachleute, zwei gut fünfzigjährige Männer, kräftig, beleibt, in marineblauen Blousons mit Security-Schriftzug, zucken die Achseln. Wie ihr wollt. Wir sind keine Daewoo-Angestellten, und unser Boss hat gesagt, wir sollen nicht eingreifen. Er hat uns nur gesagt, wir sollen im Pförtnerhaus bleiben, und er schickt noch zwei Kollegen zur Verstärkung, die Sicherheitsrundgänge machen sollen. Ihr werdet sie schon erkennen, sie tragen die gleiche Uniform wie wir. Nourredine lässt sich erklären, wie man die Tore öffnet und schließt. Sieht alles einfach aus. Draußen kommt jetzt die Sonne ein wenig durch, die Arbeiter unterhalten sich und spazieren in kleinen Gruppen müßig umher. Ein paar Frauen gehen ins Pförtnerhaus, um sich aufzuwärmen, oder laufen zurück in Richtung Cafeteria.

      Die ersten Arbeiter der zweiten Schicht treffen ein, die meisten im Auto. Nourredine öffnet das rechte Tor, die Autos werdenauf dem Parkplatz abgestellt, dann kommen die Arbeiter grüppchenweise zurück, und die Schichtteams tauschen sich aus. Keine Prämien dieses Jahr. Nein, die Zahlung wird nicht nur im Dezember ausgesetzt, es gibt gar keine Prämien. Und die Vereinbarung vom Februar? Für’n Arsch. Die Frauen debattieren unter sich. Weihnachten naht und keine Prämien, das heißt vor allem keine Geschenke für die Kinder. Die Reaktionen sind bunt gemischt, reichen von Ungläubigkeit bis Wut.

      In diesem Moment sieht Nourredine, der immer noch das Tor überwacht, drei riesige Lastzüge der Firma Rapid Umzüge Lothringen. In Zeitlupe nähert sich der Konvoi dem Kreisel, von dem die Zufahrt zur Fabrik abgeht. Nourredine betätigt die elektrische Schließvorrichtung des Tores, aber es rührt sich nicht. Adrenalinstoß, Schweißausbruch, grelle Gedankenblitze: Die Ankunft der Lkws wurde auf das Eintreffen der zweiten Schicht abgestimmt, das offene Tor muss von den Büros aus blockierbar sein, wenn die hier reinkommen, Krawall, Polizei, wir sind erledigt.

      Er stürzt nach draußen und brüllt: »Die Lastwagen, die Lastwagen! Das Tor klemmt, versperrt die Einfahrt, los, versperrt die Einfahrt!«

      Die Lastwagen nähern sich in einer langsamen, unerbittlichen Prozession. Der erste fährt in den Kreisel ein, umrundet ihn majestätisch, in der Fahrerkabine sind die Umrisse von drei Männern zu erkennen. Etwa zweihundert Arbeiter, alles Männer, Hafed in der ersten Reihe, haben sich eilig am Tor versammelt, verkrampfte Kiefer, untergehakt, an die Gitterpfosten geklammert, in mehreren Reihen, zusammengeschweißt, verflochten, mit klopfenden Herzen.

      Hinter der menschlichen Barrikade haben Nourredine und fünf andere Arbeiter gleichzeitig dieselbe Idee. Ein paar leere Paletten auf einen Haufen, die Trennpappe mit dem Feuerzeug anzünden, etwas anderes hat keiner, Scheiße, wenn das bloß brennt, es brennt.

      Der vordere Lastwagen ist in die Zufahrt zur Fabrik eingebogen, er kommt näher, keine zwanzig Meter mehr, monströse Kühlerhaube über ihren Köpfen. Die Männer schließen stumm die Augen. Zu behaupten, man hätte keine Angst … Keine fünf Meter mehr, nicht daran denken, wie der Körper auf dem Boden liegt, nicht daran denken, wie das Rad ihn zerquetscht, an gar nichts denken. Zusammenhalten. Zusammen. Halten. Und bloß nicht hinfallen.

      Keine zwei Meter mehr. Eine Parole wird von hinten nach vorn durchgegeben: Wenn einer »Feuer« schreit, so schnell wie möglich zur Seite weg und abhauen. Die Stoßstange berührt die Männer der ersten Reihe, und der Lkw rollt weiter, Zentimeter um Zentimeter. Wer kann zehn Tonnen in Bewegung aufhalten?

      Ein langgezogener Schrei, einstimmig aus sechs Kehlen: »Feuer!« Die Menschenketten reißen, bloß schneller sein als der Fahrer, sechs mit Brettern bewaffnete Männer schieben wie die Wahnsinnigen einen Stapel brennender Paletten heran, in einer Funkengarbe schrappt er über den Boden und unter die Kühlerhaube des Lastwagens, der inzwischen das Tor erreicht hat.

      »Diese Hurensöhne, wir fackeln sie in ihren Kabinen ab!«, brüllt Nourredine, schweißgebadet, die Hände verbrannt, außer sich.

      Panik im ersten Lastzug. Der Fahrer legt jäh den Rückwärtsgang ein, setzt ein paar Meter zurück, zu schnell, der Anhänger kommt von der Fahrbahn ab, seine Räder versinken im weichen Boden, er stellt sich quer, die Beifahrer springen mit Baseballschlägern heraus, um den Lkw zu schützen. Hafed und ein Dutzend Arbeiter gehen dazwischen.

      »Aufhören jetzt, aufhören. Wir bleiben auf unserer Seite, innerhalb des Werksgeländes. Wir zünden die Lkws nicht an. Wir haben gewonnen. Sie verziehen sich, wir lassen sie gehen.«

      Die Wachleute hinter ihrer Scheibe sehen dem Schauspiel regungslos zu.

      Hinter den brennenden Paletten – das trockene, luftig angeordnete Holz gibt ein schön helles, lebendiges Feuer – drängen sich die Arbeiter und gucken zu, wie die schweren Lastwagen unbeholfen mit ihren Anhängern manövrieren, um wegzukommen. Spötteleien und Gelächter, pass auf, dir schmort noch der Motor durch, stellen sich nicht gerade geschickt an, die Fahrer, Erdklumpen fliegen gegen die Windschutzscheibe, ein paar Steine, man reagiert sich ab, nichts wirklich Schlimmes. Nourredine hat sich seinen grauen Kittel heruntergerissen und ins Feuer geworfen. Dann fahren die Lastwagen in einer langsamen Prozession wieder ab, wie sie gekommen sind. Je weiter sie sich entfernen, durch die Flammen hindurch nur undeutlich zu sehen, desto stiller wird es, und die Stille hält auch, nachdem sie in Richtung Luxemburg verschwunden sind, noch ein paar Minuten an. Jeder sieht noch einmal ein Stück Kühlerhaube, den Zipfel einer Stoßstange, die Kante eines Kotflügels, ein Rad, jeder durchlebt noch einmal die Berührung der zusammengeschweißten Körper, die der Angst widerstehen, die Stiche des Feuers und die Riesenfreude über das Debakel des Monstrums, das gemeinsam ausgekostete Gefühl, dass wir, wir alle miteinander, eine Macht sind, uns gehört die Welt. Gereckte Fäuste in Richtung der blinden Fenster der Geschäftsleitung.

      Hätte man uns nicht gewarnt, wären die Lkws problemlos reingekommen, denkt Nourredine benommen und glücklich.

      Dann schnappt sich Hafed einen Stuhl aus dem Pförtnerhaus und steigt darauf. »Da sie uns den Krieg erklärt haben, müssen wir uns organisieren, damit wir ihn auch führen können.«

      An diesem sonnigen frühen Nachmittag verbreitet sich das Gerücht von dem Streik, dem Machtkampf und der Niederlage der Bosse in der ganzen Umgebung. Die Fabrik wirkt wie ein Magnet, und sie kommen von überall aus dem Tal, Arbeitslose, Rentner, zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Auto, um zu hören, was es Neues gibt, um zu sehen, wie die jungen Leute sich schlagen, um über ihre Erinnerungen zu reden. Als die Stahlindustrie noch alle Täler ringsum einnahm, als das Wort »Streik« noch eine Bedeutung hatte, als man die Polizeireviere mit Bulldozern angriff, als man massenhaft und ohne friedliche Absichten nach Paris marschierte … Erinnerungen, neben denen das, was sich soeben bei Daewoo ereignet hat, zu fast nichts, zu einer Bagatelle schrumpft, glaubt mir, Jungs. Auf dem Grünstreifen vor den Toren bilden sich


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