Advent, Advent, die Alster brennt. Kai Riedemann

Advent, Advent, die Alster brennt - Kai Riedemann


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Obergeschoss: Vertriebsabteilung. Es war der größte Bereich, für den er zuständig war. Wieder diese Magenschmerzen! Pauli schluckte gegen eine aufkommende Übelkeit an. Er schloss die Augen und versuchte krampfhaft, nicht an den Vertrieb zu denken.

      Erstes Obergeschoss: Hausbetriebe und Druckerei. Über die Leute hier wusste er nicht viel, das war der Bereich des Kollegen Jacobsen. Der sprach nicht viel, schon gar nicht über die Mitarbeiter, die er zu betreuen hatte.

      Erdgeschoss: Empfangshalle und Telegrafenraum. Pauli sprang aus dem Paternoster, hinter ihm sank die Kabine in die Tiefe. Er atmete tief ein, blickte sich dann mit einem Lächeln um. Der Eingangsbereich des Kontorhauses hatte sich seit einem Jahrhundert kaum verändert. Außen schlichte Fassade, doch innen diese prunkvolle Halle: Zwei riesige Kristallleuchter an der hohen Stuckdecke, die Wände mit edlen Hölzern verkleidet, der Fußboden atmet Bodenständigkeit in hellem Marmor. Am Ende der breiten Treppe der Brunnen, aus einem Sandstein herausgehauen.

      Wie schon immer überflutete Pauli dieses Glücksgefühl, wenn er in der Halle stand. Das war schon als Junge so gewesen, als ihn sein Vater einmal hierher mitgenommen hatte. »Hindenburghaus, Großer Burstah 31«, hatte der Vater geraunt, als ginge es um das Versteck eines Schatzes, »das älteste Kontorhaus Hamburgs, 1909 gebaut.« Und es war tatsächlich ein Schatz gewesen. Diese riesig hohe Halle, die Kronleuchter, an denen die Diamanten funkelten, die breite Treppe nach oben, die Ausbuchtungen im Geländer wie bei einer Kanzel in der Kirche, das alles erschien dem kleinen Rainer wie ein Wunder.

      Und auch jetzt fühlte sich der Personalreferent Pauli wieder wie ein staunender Junge, als er an den hölzernen Säulen vorbei nach oben blickte. Das Geländer rechts und links der Treppe hatte es ihm besonders angetan. Ach nein, nicht angetan, das war entschieden zu wenig. Es weckte immer noch dieses stürmische Verlangen in ihm, sich einfach darauf zu setzen und jauchzend herunterzurutschen. Natürlich tat er es nicht, denn die Fahrt würde unweigerlich vor den Füßen von Herrn Ramelow enden.

      Herr Ramelow war nicht nur der Pförtner der Betha-Radlager GmbH, sondern auch das Aushängeschild der Firma. Er war der Mann, dem man als Erstem begegnete, wenn man die schwere Eingangstür aufgedrückt und die gläserne Zwischentür durchschritten hatte. Selbstverständlich kannte Herr Ramelow die Namen aller Mitarbeiter, das waren nicht gerade wenige. Jedenfalls bisher. Der nicht sehr groß geratene, doch trotz seiner grauen Schläfen immer noch schlanke Herr Ramelow verkörperte mit seinen korrekt sitzenden Maßanzügen und den Krawatten in gedeckten Farben den hanseatischen Geist des Hauses.

      Sie kannten sich schon seit Jahrzehnten, Pauli und Herr Ramelow. Gelegentlich plauderten sie miteinander. Nichts Persönliches, selbstverständlich nicht. Mehr ein allgemeines Gespräch, von gegenseitiger Sympathie getragen. Über das Wetter, über den HSV und über die viel zu hohen Preise des Nahverkehrs. Diese kurzen Gespräche in der alten Halle versetzten Pauli immer in einen Zustand der abgeklärten Ruhe. Sie hinterließen jedoch auch eine gewisse Beklemmung, wenn er angesichts dieses perfekt gekleideten Herren an seine an den Sitzflächen abgewetzte Hose und seine abgetragene Strickjacke dachte.

      Jetzt allerdings war die Pförtnerloge verwaist. Wo war Herr Ramelow? Wo war dieser überaus korrekte Mann, der doch nie seinen Platz verließ? Vielleicht ist er auf der Toilette, dachte Pauli, so etwas soll ja mal vorkommen, sogar bei Pförtnern. Er durchquerte die Halle und trat durch eine schmale Tür in den Telegrafenraum. Hier stand der große, altertümliche Fernschreiber mit seiner weißen Papierrolle und dem gelben Lochstreifen. Und seit Neuestem stand hier auch das Telefax-Gerät. Ein kleiner, beiger Kasten mit grünen Lämpchen, der das Wunder vollbrachte, keine unformatierten Nachrichten auszuspucken wie der Fernschreiber, sondern richtige Briefe und sogar Kopien von Originaldokumenten. Pauli hatte sich nicht die Mühe gemacht, diesen Zauberkasten zu verstehen. Ihm reichte es, wenn er funktionierte. Und das tat er. Meistens jedenfalls.

      Bis vor Kurzem war hier noch Frau Kunze beschäftigt gewesen, die den Fernschreiber bedient und die ankommenden Mitteilungen im Hause verteilt hatte. Doch mit der neuen Technik war nicht nur das Fernschreibgerät stillgelegt, sondern auch die Bedienungskraft entlassen worden. Seit dieser Zeit war Herr Ramelow für die eingehenden Nachrichten zuständig. Wenn eine Meldung hereinkam, rief er die Fachabteilung an, die dann einen Mitarbeiter nach unten schickte. Doch darauf durfte sich Pauli heute nicht verlassen, denn er erwartete ein Gutachten des Arbeitgeberverbandes über die »arbeitsrechtliche Beurteilung der Freisetzung der Mitarbeiter des Vertriebs-Bereichs«. Undenkbar, was geschehen würde, wenn jemand anderes als die Personalabteilung diese Expertise zu Gesicht bekäme. Das würde die Firma in ihren Grundfesten wanken lassen. Obwohl eigentlich nicht mehr viel dazu gehörte, die Grundfesten zu erschüttern.

      Die Maschinen sonderten reichlich Wärme ab, es wurde Pauli heiß in dem kleinen Raum. Er stellte sich in die Halle, das eine Auge auf den Paternoster, das andere auf die Treppe gerichtet. Sollte jemand herunterkommen, würde er sofort den Telegrafenraum in Beschlag nehmen.

      Immer noch kein Telefax. Pauli wanderte zwischen dem Paternoster und der Treppe hin und her. Schließlich stellte er sich neben die Zwischentür und blickte durch die Kristallglasscheiben nach draußen. Es schneite. In der nachmittäglichen Dunkelheit hasteten Menschen vorbei, auf der Suche nach den letzten Weihnachtsgeschenken. Es wurde Zeit: In ein paar Tagen war Heiligabend. Stille Nacht, Heilige Nacht. Für viele war es eine unheilige Nacht mit einem Gabentisch, auf dem die Kündigung lag. Rechtzeitig als Einschreiben mit Rückschein abgeschickt, um die Frist bis zum Jahresende zu wahren.

      Es schneite nun in richtig dicken Flocken. Pauli widerstand dem starken Drang, nach draußen zu gehen und Schneeflocken aufzufangen. Oder in den Schnee hinauszuwandern, immer weiter und weiter. Weg von der Firma mit diesem schrecklichen Geschäftsführer, der ihn zwang, Menschen unglücklich zu machen, die ihm nichts getan hatten.

      Pauli hatte Lust, sich zu unterhalten. Um die Zeit totzuschlagen, bis das Telefax kam. Doch Herr Ramelow war noch nicht zurückgekommen. Also stellte er sich wieder so auf, dass er die Treppe und den Paternoster im Auge behalten konnte.

      In einer der Kabinen, die aus dem Keller kam, war ein Mann. Pauli erkannte ihn sofort. Unwillkürlich nahm er Haltung vor dem Geschäftsführer an. Doch der Mann nahm keine Notiz vom Personalreferenten Pauli. Er hing in einer Ecke der Kabine, war zusammengesunken, die Knie eingeknickt. Sein weißes Hemd war rot gefärbt, das Jackett auch. Vom Mund führte ein dünner, blutiger Faden zum Kinn. Pauli starrte den Mann an, der rumpelnd nach oben verschwand. Wim van Zijstra war tot, das war unübersehbar, offensichtlich ermordet. Das war ein Problem. Jedoch keines, für das die Personalabteilung zuständig war. Hier waren externe Leute gefragt.

      Pauli lehnte sich schwer atmend gegen die Wand und wischte sich fahrig übers Gesicht. Sein Magen rebellierte, ihm war schlecht. Du kannst nicht hier herumstehen, sagte eine Stimme in ihm. Ich will nichts damit zu tun haben, antwortete eine andere Stimme. Reiß dich am Riemen!, sagte die erste Stimme wieder. Wenn wenigstens der Pförtner hier wäre, jammerte die zweite Stimme.

      Der Personalreferent stolperte zur Pförtnerloge und nahm den Hörer von der Telefonanlage. Muss ich 110 oder 112 wählen? Eine Nummer war die der Polizei, die andere die der Feuerwehr, doch welche war die richtige? War Feuerwehr gleichbedeutend mit Unfallwagen? Pauli fuhr sich über die Stirn. Sie war nass. Unfallwagen war sicherlich nicht richtig, wenn der Mann bereits tot war. Da musste ein Bestattungsunternehmer kommen.

      Die vielen blinkenden Lämpchen verwirrten ihn, aus dem Hörer kam kein Ton. Der Tod muss durch den medizinischen Dienst festgestellt werden, sagte er sich. Doch wie war dessen Nummer? Er drückte auf eine blinkende Taste. Aus dem Hörer kam ein Besetztzeichen. Pauli ließ den Hörer sinken. Er musste sich einen Augenblick an der Pförtnerloge festhalten. Mühsam, als hätte er eine schwere Arbeit zu verrichten, drückte er eine andere Taste.

      »Na, endlich meldet sich jemand«, quäkte eine empörte Stimme aus dem Hörer. »Ich habe meine Zeit nicht gestohlen! Verbinden Sie mich endlich mit der Marketingabteilung.«

      Aus dem Telegrafenraum hörte Pauli ein Geräusch. Er legte den Hörer auf und stolperte hinüber. Es war nicht das Telefax, auf das er wartete.

      Pauli schaute auf seine Hände. Sie zitterten. Sie zitterten überaus stark. Du musst dich zusammennehmen,


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