Advent, Advent, die Alster brennt. Kai Riedemann
an und lächelt.
»Was würdest du heute Abend tun, wenn du nicht der Weihnachtsengel wärest?«, fragt er.
»Nicht viel«, antworte ich langsam. »Meine Eltern haben sich im Sommer getrennt. Meine Mutter veranstaltet ein großes Weihnachtsfest mit ihrer ganzen Familie, meiner Großmutter und sämtlichen Tanten, und mein Vater feiert mit seiner neuen Freundin. Ich hatte auf beides keine Lust.«
»Ich verstehe«, sagt Stefan ruhig. »Tut mir leid.« Er sagt es ganz gelassen, aber es klingt trotzdem nicht wie eine Floskel.
Ich nicke stumm, aber dann nehme ich mir doch ein Herz. »Und du?«, frage ich.
»Meine Eltern sind schon seit ein paar Jahren tot«, antwortet Stefan und hebt abwehrend die Hand, als ich betroffen aufsehe und etwas sagen will. »Schon gut. Ich könnte mit der Familie von meinem Bruder feiern, aber …« Er lächelt. »Eigentlich gefällt es mir ganz gut, der Weihnachtsmann zu sein, überall ein und aus zu gehen, wie ich es für richtig halte und auch einmal etwas von Weihnachten zu haben.«
Etwas an seinem Tonfall irritiert mich, ich sehe ihn von der Seite an. Bunte Lichter spielen im Seitenfenster des Autos. Wir fahren über die Reeperbahn, die so aussieht wie an einem beliebigen Abend in der Woche, große Leuchtreklamen, hier und dort ein paar Fußgänger.
»Macht dir das wirklich Spaß?«, frage ich unwillkürlich.
Stefan wirft mir einen kurzen Blick zu. »Nicht immer«, sagt er. »Aber meistens schon, besonders hinterher. Und warte ab, bis du Blankenese an Weihnachten siehst.«
Ich hatte nicht gedacht, dass ich die Elbvororte einmal noch stiller und feierlicher finden könnte, als sie es ohnehin schon sind. Stefan ist irgendwo von der Elbchaussee abgebogen und fährt durch stille Straßen, mit vornehmen Häusern und dunklen Gärten. In den Villen sind meist nur die Fenster im Erdgeschoss erleuchtet. Hier und dort ist ein Tannenbaum oder ein Strauch mit Lichtern geschmückt.
An einer kleinen Kreuzung parkt Stefan das Auto am Straßenrand. »Es ist dort vorne«, sagt er und deutet in die Straße hinaus. »Wir sollten laufen, es muss niemand sehen, dass der Weihnachtsmann mit dem Auto und nicht mit dem Rentierschlitten kommt.«
Das Haus ist eine kleine, weiße Villa, alle Fenster sind hell, hinter den Gazegardinen bewegen sich lebhafte Schatten. Es ist Musik zu hören, nicht sehr laut, aber sie passt trotzdem nicht in die stille Straße.
Stefan öffnet ohne Umstände die kleine Gartenpforte. An der Haustür dauert es lange, bis auf unser Klingeln endlich geöffnet wird. Eine Frau steht auf der Schwelle, fast bin ich über ihre Erscheinung erschrocken, trotz des eleganten Kleides. Sie schwankt ein wenig auf ihren hohen Absätzen, ich rieche Alkohol, obwohl ich einen halben Schritt hinter Stefan stehe. In der freien Hand hält sie eine brennende Zigarette.
»Kommen Sie herein«, sagt sie langsam, bei ihren ersten Silben hört man noch, dass sie sich Mühe gibt, die Worte sorgfältig auszusprechen, aber dann ist da schon ein Lallen in ihrer Stimme. »Wir dachten nicht, dass Sie noch kommen.« Es hätte ein Vorwurf sein können, aber so, wie sie es sagt, mühsam artikulierend, klingt es völlig gleichgültig. »Die Kinder sind im Weihnachtszimmer.« Sie tritt zurück und in den Flur hinein. Durch eine offene Tür erhasche ich einen Blick auf ein Wohnzimmer, in dem Erwachsene stehen, trinken und sich unterhalten, aber sie weist zur Seite auf eine angelehnte Tür.
»Fröhliche Weihnachten«, sagt Stefan ernst. Ich werfe einen raschen Blick durch den Flur, auf eine übervolle Garderobe, eine steile Treppe in das Obergeschoss hinauf. Als ich mich wieder zu der Dame umwenden will, ist sie plötzlich verschwunden. Stefan zuckt unmerklich die Schultern und öffnet dann mit großer Geste die Tür. »Fröhliche Weihnachten!«
Vor den bodentiefen Fenstern des Zimmers steht der Weihnachtsbaum, übervoll geschmückt. Auf den beiden großen Sofas und auf dem Parkettboden liegt überall Geschenkpapier herum, geöffnete Spielzeugkartons und Verpackungen. Die Kinder, die dazwischen auf dem Boden sitzen, sehe ich erst auf den zweiten Blick. Es sind drei Jungen und zwei Mädchen, der älteste bestimmt schon zehn, die anderen etwas jünger.
»Der Weihnachtsmann«, jauchzt einer der Jungen und springt auf Stefan zu, die anderen folgen zögerlicher. Stefan beugt sich zu dem Kleinen herunter, als der ihn ziemlich unsanft am Mantel zieht.
»Warum kommst du erst jetzt? Wir haben unsere Geschenke doch schon.«
»Ich habe aber noch mehr.« Stefan beugt sich zu ihm hinunter, und reicht ihm ein kleines Paket aus dem Jutesack. »Eigentlich muss man an Weihnachten ja immer ein Gedicht aufsagen können, aber weil wir zu spät gekommen sind, müssen das dieses Jahr nur die Kinder tun, die auch möchten. Weiß jemand eins?«
Stille breitet sich aus, bis eines der Mädchen zögerlich ein großformatiges Buch vom Boden aufhebt und es mir geöffnet entgegenstreckt.
»Kannst du das vorlesen?«, fragt sie.
Etwas verblüfft nehme ich das Buch entgegen. Es sind altertümliche Weihnachtsgedichte, mit großen Illustrationen.
Stefan wirft einen Blick über meine Schulter und nickt mir gemessen zu, aber seine Augen glänzen. »Der Weihnachtsengel liest euch vor«, sagt er feierlich. »Ich komme gleich zurück.«
Ich sehe ihm erstaunt nach, aber da sind fünf Kinder, die mich neugierig ansehen. Langsam lasse ich mich auf dem Sofa nieder und fange an, ein langes, altmodisches Gedicht vorzulesen. Die Kinder hören gebannt zu, trotzdem kommt es mir wie eine Ewigkeit vor. Ich bin erleichtert, als Stefan lautlos wieder das Weihnachtszimmer betritt. Mit feierlichen Gesten verteilt er bunt eingepackte Geschenke.
»Wir müssen jetzt gehen«, sagt er bedauernd, als ich geendet habe. »Fröhliche Weihnachten!«
Ich reiche dem Mädchen das Buch zurück und folge Stefan in den leeren Flur hinaus. Hinter uns dringt die Musik aus dem Wohnzimmer. Niemand nimmt Notiz von uns, als wir das Haus verlassen. Im Licht der Straßenlaternen funkeln die feinen Regentropfen auf meinem Wollpullover.
Erst in Sichtweite des Autos bleibe ich stehen.
»Was hast du da alleine im Haus gemacht?«, frage ich Stefan und versuche, ihm ins Gesicht zu sehen.
Es ist ein seltsamer Unterton in seiner Stimme, als er antwortet. »Nichts. Ich war auf der Toilette.«
Ich strecke unvermittelt die Hand aus und fasse in die Falten des Jutesackes, kann ihm den groben, braunen Stoff aus der Hand winden. Er macht einen Schritt auf mich zu, als wolle er mir den Sack gewaltsam wieder entreißen, dann besinnt er sich und macht eine beschwichtigende Geste, um danach die Arme zu verschränken und mich herausfordernd anzusehen.
Ich würdige ihn keines Blickes, als ich die Öffnung des Sackes auseinanderschlage. In den Falten des braunen Stoffes liegen oben noch einige von den bunt eingepackten Geschenken, aber auf den ersten Blick wird ersichtlich, dass der Weihnachtsmann noch wertvollere Dinge mit sich herumträgt. Unter den Paketen liegen Geldscheine, Fünfziger, Zwanziger, auch ein grüner Hunderteuroschein. Als ich die Falten des Sackes hin- und herschüttele, sind da auch noch andere Dinge, eine große Herrenarmbanduhr, die sehr teuer aussieht, und ein kleines Schmuckdöschen ohne Deckel, in dem ein Ring steckt.
Für einen Moment bin ich ganz starr, obwohl ich geahnt habe, dass etwas nicht stimmt. Wortlos fasse ich den braunen Stoff an der Öffnung des Sackes fest zusammen und wende mich zu Stefan um.
»Das darf nicht wahr sein«, sage ich fassungslos. »Du bestiehlst die Familien, die du als Weihnachtsmann besuchst?«
Stefan erwidert meinen Blick, ohne zu antworten.
»Gib’ mir die Autoschlüssel«, fordere ich heiser.
Er greift unter seinen Mantel und wirft mir den Autoschlüssel zu. Es gelingt mir, ihn zu fangen, auch wenn ich bestimmt keine elegante Figur dabei abgebe, im Kleid und mit dem Jutesack in der Hand. Entschlossen gehe ich auf das Auto zu und will auf der Fahrerseite einsteigen. Ich habe die Flügel vergessen, die Pappe bleibt an der Türöffnung hängen. Mit zusammengebissenen Zähnen streife ich Flügel und Mantel