Advent, Advent, die Alster brennt. Kai Riedemann

Advent, Advent, die Alster brennt - Kai Riedemann


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zu warten. Der Geschäftsführer kam wieder vorbei, diesmal auf dem Weg nach unten. Er hatte seine Lage verändert, war ganz in sich zusammengesunken und nach vorne gefallen. Sein Gesicht und sein Jackett wiesen breite Spuren von Fett auf. Lagerfett. Solches, wie es zum Schmieren von Zahnrädern verwendet wurde.

      Pauli wusste, woher das Fett kam. Er selbst war einmal völlig in Gedanken im Paternoster bis nach oben gefahren. Dorthin, wo es keinen Ausstieg mehr gab. Plötzlich hatte die Kabine eine Seitwärtsbewegung gemacht und war an einem riesigen, fingerdick mit Fett beschmierten Zahnrad vorbeigeschwungen. Pauli hatte sich erschrocken an die Rückwand der Kabine gedrückt. Im nächsten Augenblick wich das Zahnrad nach oben zurück, dann war er wieder auf dem Weg nach unten.

      Der Personalreferent Rainer Pauli starrte dem verschwindenden Geschäftsführer nach. Da! Wieder ein Geräusch aus dem Telegrafenraum. Das war sein Telefax. Es kamen mehrere Seiten, dann ein heller Piepton. Die Übertragung war unterbrochen.

      Pauli wartete. Auf den Geschäftsführer. Doch der Tote tauchte nicht mehr auf. Er drückte seine Fingerspitzen auf die Schläfen. Sah er Gespenster? Oder war er überarbeitet? Gab es gar keinen toten Wim van Zijstra? Waren alles nur Hirngespinste, Wunschträume? Halluzinationen, oder wie das hieß? Er kannte sich wenig aus in diesen Dingen. Plötzlich blieb der Paternoster stehen. Totenstille. Kein Rumpeln mehr. Jetzt war sich Pauli sicher, dass er verrückt geworden war. Einen Paternoster, der stillstand, das gab es nicht. Er schloss die Augen. Wartete einen Augenblick. Öffnete sie dann wieder. Der Paternoster rumpelte. Ein Mann kam nach oben.

      »Guten Tag, Herr Pauli«, sagte Herr Ramelow höflich.

      Pauli schüttelte verwirrt den Kopf. »Wo kommen Sie denn her?«

      »Von unten. Dort ist eine Reparaturtür. Durch die kann man direkt aus dem Paternoster in die Tiefgarage steigen. Wussten Sie das nicht?«

      »Nein. So weit bin ich noch nie gefahren.«

      »Kann ich Ihnen helfen?«

      »Nein, nein. Ich warte auf ein Telefax.«

      »Ich kann Sie anrufen, wenn es da ist.«

      »Geht nicht. Ist streng vertraulich.«

      Herr Ramelow zog eine Augenbraue hoch. »Wenn die Personalabteilung ein streng vertrauliches Telefax erwartet, dann hat das nichts Gutes zu bedeuten.«

      Pauli wechselte das Thema. »Was machen Sie über die Feiertage?«

      »Ich arbeite in der Weihnachtswoche. Und an Silvester packe ich meine Sachen zusammen. Dann werde ich ersetzt.«

      »Ersetzt?« Paulis Stimme klang schrill.

      »Ja. Durch eine Anzeigetafel. Stellen Sie sich das mal vor.« Herr Ramelow bemühte sich jetzt nicht mehr um eine hanseatische Zurückhaltung. Seine Stimme klang aufgebracht, er hieb mit der Faust in die flache Hand. »Nach 32 Jahren abserviert! Dabei sollte doch der Pförtner als Letzter gehen.«

      »Ja, ja«, sagte Pauli und fuhr sich wieder übers Gesicht.

      Die beiden Männer blickten schweigend in das Schneetreiben.

      »Ich bekomme vielleicht noch mal Arbeit«, sagte Herr Ramelow, »wenn ich Glück habe, in einem Hotel. Ansonsten als Türsteher vor einem Nachtklub. Pförtner werden ja immer gebraucht.«

      Pauli blickte den korrekten Herrn Ramelow zweifelnd an.

      »Joseph Hilbert hat es schwerer«, sagte der Pförtner.

      »Hilbert, der Fahrer?«

      »Er hat ja immer die oberen Gehaltsklassen gefahren. Seit Jahrzehnten. Doch von jetzt an sollen die Prokuristen selbst chauffieren.«

      »Das wusste ich nicht.«

      »Hilbert ist total aus dem Häuschen. Der hat vielleicht eine Wut im Bauch. Der weiß, dass er keine Arbeit mehr bekommt. Er ist einfach zu alt.« Herr Ramelow blickte nachdenklich auf die Ziehfäden an Paulis Strickjacke.

      »Wie lange hat Hilbert noch?«

      »Heute war sein letzter Tag. Ich habe ihm gerade geholfen, seine Sachen im Auto zu verstauen. Er hatte ein kleines Büro in der Tiefgarage.«

      Pauli blickte wieder durch die Scheiben in den dunklen Abend. Nächste Woche war Weihnachten, das Fest der Liebe. Ein Fest, an dem Leute wie Ramelow und Hilbert am Weihnachtstisch saßen und sich fragten, ob das Leben wohl weitergehen wird.

      »Haben Sie eigentlich ein zweites Jackett, Herr Ramelow?«

      »Zweites Jackett?«

      »Ja oder nein.«

      »Ja, ja, natürlich. Ich habe immer ein Reservejackett hier. Und auch eine Reservekrawatte. Es könnte ja sein, dass ich mich mit Kaffee bekleckere. Wie würde das aussehen, der Pförtner einer renommierten Firma mit Kaffeeflecken?«

      Die beiden Männer schauten den Schneeflocken nach.

      »Wieso fragen Sie, Herr Pauli?«

      »Weil Sie einen großen Fleck am Revers haben. Sieht aus wie Schmiere.«

      Herr Ramelow schaute betroffen an sich herunter. »Ärgerlich! Das muss von Josephs Auto sein.«

      Aus dem Telegrafenraum piepte es, dann war das Brummen des Gerätes zu hören.

      »Mein Telefax«, sagte Rainer Pauli.

      »Mein Reservejackett«, sagte Herr Ramelow.

      »Falls wir uns nicht mehr sehen: Schöne Weihnachten, Herr Ramelow.«

      »Das wünsche ich Ihnen auch, Herr Pauli. Und grüßen Sie die Familie.«

      Sarah Fiona Gahlen

       Engel und Weihnachtsmann

      Es sind noch zwei Tage bis Heiligabend. Vor dem kleinen Café im Grindelviertel verabschiede ich mich von Annika. Die Fensterscheiben sind mit Sprühschnee unbeholfen mit Schneeflocken verziert worden, die Weihnachtsdekoration sieht irgendwie unordentlich aus. Das ganze Viertel wirkt schon jetzt sehr leer auf mich.

      »Bis zum nächsten Jahr, Katharina«, sagt Annika, als sie mich umarmt. Sie hat ganz leuchtende Augen. Mir war überhaupt nicht klar, dass Weihnachten auch auf Menschen im Alter von über zwanzig Jahren eine Wirkung ausüben kann, die ich sonst nur bei meinen kleinen Cousins beobachten kann. Wenn ich jemals in eine solche Vorfreude verfallen sein sollte, bin ich zumindest im Moment nicht in der Stimmung, mich daran zu erinnern. Trotzdem will ich Annika nicht die Freude verderben. »Frohe Weihnachten«, wünsche ich ihr und sehe ihr nach, wie sie davoneilt.

      Ich schrecke auf, als mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippt. »Gesegnete Weihnachten«, sagt eine tiefe Stimme, noch tiefer verstellt.

      Ich seufze, verdrehe die Augen und wende mich um. »Hallo, Stefan.«

      Er zwinkert mir zu. Stefan hat strahlend blaue Augen und ist niemals richtig rasiert. Er könnte der erklärte Frauenschwarm unseres Jahrganges sein, aber selbst dafür ist er eine Spur zu herablassend. Ich halte mich normalerweise von ihm fern, auch wenn ich ahne, dass wir uns gut verstehen könnten.

      »Gar nicht in Weihnachtsstimmung?«, fragt Stefan. »Fährst du nicht heute oder morgen nach Hause?«

      »Nein, dieses Jahr nicht«, sage ich einsilbig. »Und du?«

      Er schüttelt den Kopf. »Auch nicht.« Jetzt ist er es, der nicht weiterspricht. Die stumme Frage hängt zwischen uns, bis ich mir ein Herz fasse. »Was machst du dann übermorgen Abend?«

      Stefan grinst. »Ich spiele den Weihnachtsmann.«

      Mein Blick muss ziemlich verdutzt sein. Stefan lacht leise. »Ja. Über die studentische Weihnachtsmannvermittlung. Das macht ziemlich viel Spaß, man sieht an einem einzigen Abend vier oder fünf Weihnachtsbäume


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