Gewalt. Frank Rudolph
Es ist jedoch klug, generell auf Beleidigungen und Drohungen zu verzichten, denn um es mit den Worten Machiavellis zu sagen: »Weder die Beleidigung noch die Drohung haben irgendeinen positive Nutzen, im Gegenteil, das eine macht den Gegner wütend und rachsüchtig, das andere macht ihn vorsichtig.«
Um die obengenannten Prinzipien und Strategien deutlich werden zu lassen, geben wir hier eine wahre Geschichte wider, die sich im modernen China abgespielt hat.
Der mächtige und gefürchtet chinesische Mafiaboss H. aus der chinesischen Provinz Hubei war früher ein unbedeutender Mann ohne Perspektiven und Kontakte. Mit Mühe und Not schaffte er es, sich zu ernähren. Er war in der Baubranche tätig, wobei seine Arbeit darin bestand, kleine Häuser abzureißen. Der ortsansässige Mafiaboss wollte ihm diese Projekte wieder entreißen.3 Jeder, der schon einmal versucht hat, ohne Beziehungen in China etwas auf die Beine zu stellen, versteht, weshalb der Kleinunternehmer entschlossen war, diese Ungerechtigkeit mit allen Mitteln zu verhindern. Er ließ es also darauf ankommen. Am Abend sagte er dem Mafiaboss, dass er mit seinen Arbeitern sein Territorium mit Waffengewalt verteidigen werde und sie ruhig kommen sollten. Daraufhin verlor der Mafioso die Selbstbeherrschung und schickte mehrere mit Schusswaffen versehene Männer auf den Bau. H. hatte allerdings die Polizei alarmiert, die die bewaffneten Banditen unverzüglich festnahm. Waffenbesitz gilt in China als eines der schwersten Vergehen und wird streng bestraft. Die nachfolgenden Ermittlungen ergaben, dass H. bedroht worden war und er und seine Männer sich lediglich mit ihren Arbeitsgeräten schützen wollten. Der Mafioso musste sich nun verantworten und kam ins Gefängnis, wo er schließlich starb. H. hingegen wurde weder verhaftet noch angeklagt. Im Gegenteil, von nun an hatte er Ruhe und konnte sein Projekt zu Ende bringen. Durch diesen Streich über den mächtigen Mafiaboss wurde er selbst zu einem mächtigen Mann. Aus dem kleinen Mann H. wurde der bis heute mächtigste und reichste Mafiaboss der Gegend. Von ihm stammt auch das obenstehende Zitat.
Weshalb viele der Mächtigen auf Dauer mächtig bleiben, liegt daran, dass diese Menschen oft zu Institutionen geworden sind und ihre persönlichen Sündenböcke besitzen. Das sind Leute, die die Drecksarbeit erledigen, während die Hände der Bosse sauber bleiben. Friedrich Nietzsche beschrieb das sehr passend mit den Worten: »Ein Mensch ist wie ein Baum. Je höher er ins Licht wächst, desto tiefer müssen seine Wurzeln ins böse schwarze Erdreich gehen.« Die Mächtigen müssen ihre Wurzeln zwangsläufig im Dunkeln haben, sonst könnten sie nicht wachsen. Das ist aber auch die Schwachstelle, die immer wieder zum Sturz einst Mächtiger führt.
Ignorieren Sie solche Zusammenhänge nicht, sondern versuchen Sie, sie zu verstehen. Das ist wichtig für Ihren Selbstschutz, denn der Selbstschutz fängt nicht erst beim körperlichen Kampf an, sondern schon lange davor.
Das Dao des Cleaners
Daoisten und professionelle Cleaner1 haben durchaus einige Gemeinsamkeiten, auch wenn das auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen mag. – Wenn man seine Instinkte für seinen Selbstschutz bestmöglich nutzen will, muss man »losgelöst sein«, ganz wie es in vielen Philosophien beschrieben wird. Bruce Lee hat dies, der daoistischen Philosophie folgend, gut erklärt. Er schrieb: »Losgelöstsein bedeutet, dass die Ursache aller Dinge jenseits menschlichen Verstehens ist, jenseits der Kategorien von Raum und Zeit. Es überragt jede Art und Weise von Relativität, und darum nennt man es, Losgelöstsein’ … Ein Mensch (Kämpfer), welcher dieses, Losgelöstsein’ anwendet, ist nicht mehr er selbst. Er bewegt sich automatisch und überlässt sich dem Einfluss außerhalb seines normalen Bewusstseins, was nichts anderes ist, als sein eigenes Unterbewusstsein, von dem er bis zu diesem Zeitpunkt nichts ahnte.« Auf Ihren bestmöglichen Selbstschutz bezogen, bedeutet das: Seien Sie kontrolliert und vernünftig, zeigen Sie Nachsicht und Rücksicht in belanglosen Situationen. Überlassen Sie dem aggressiven Autofahrer den Vorrang oder seinen Parkplatz, bestätigen Sie den Fußballfan in seiner Mannschaft und lassen Sie sich auf keine Streiterei über Kunst, Sport, Politik oder Religion ein.2 Warum sollten Sie auch Ihre kostbare Zeit und Energie für so etwas vergeuden?
Jetzt erkennen Sie vielleicht, was der Daoist und der Cleaner gemein haben. Beide kümmern sich nur um sich, der eine, weil es seine Lebensauffassung ist, der andere, weil es seinem Beruf entspricht. Daoisten streben nicht nach Äußerlichkeiten, weil sie ihnen nichts bedeuten, Cleaner tun es nicht, weil es ihr Beruf erfordert.
Auf den Selbstschutz bezogen bedeutet das, dass es von Vorteil ist, sich seinem Umfeld anzupassen und sich mit dem Strom und nicht gegen ihn zu bewegen. Seien Sie in diesem Sinne ein Opportunist. Dieses Wort, das heute oft einen negativen Beiklang hat, kennzeichnet eigentlich lediglich einen Menschen, der sich den Gegebenheiten, das heißt, der Realität, anpasst. Also wie jene Vorfahren von uns, die es vorzogen, vor einem Raubtier auszureißen oder sich zu verstecken, anstatt sich von ihm fressen zu lassen. Und schützen Sie sich genau wie unsere Vorfahren mit allen Mitteln, wenn es notwendig werden sollte. Verlieren Sie jede Nachsicht und lassen Sie Ihren Instinkten in gefährlichen Situationen freien Lauf. Werden Sie überfallen, drehen Sie den Spieß um. Bricht man in Ihre Wohnung ein, greifen Sie den Einbrecher an. Natürlich gilt es abzuwägen, wann solch ein Verhalten sinnvoll ist.3 Doch die obigen Berichte zeigen deutlich genug, dass man nie wissen kann, an welche Art Kriminellen man gerät.
Gewalt im Alltag
Selbstschutz fängt im Kleinen an. Seriöse Statistiken1 der Polizei belegen, dass die meisten zivilen Gewalttaten im Bekannten- oder Verwandtenkreis stattfinden. Opfer und Täter sind oft lange miteinander bekannt, befreundet oder auch verheiratet. Freunde wissen am besten, wie man seinen Nächsten verletzt. Aus harmlosen und meist nicht ernstgenommenen Situationen kann brutalste und unkontrollierbarste Gewalt erwachsen. Kämpfe finden immerfort in allen Städten statt. Relative Harmonie schlägt immer wieder unvermittelt in die schlimmste Gewalt um.
Der Gründer der friedlichen Kampfkunst aikidō, der Japaner Ueshiba Morihei2, galt als einer der stärksten Kämpfer des 20. Jahrhunderts. Er wurde als unangreifbar angesehen. Das ist die Legende. Eine Geschichte erzählt davon, wie Ueshiba als alter Mann auf der Toilette war und einer seiner Schüler den sehr alten Mann für eventuelle Hilfe begleitete. Als Ueshiba urinierte, schaute er seinen Schüler plötzlich mit einem strengen Gesichtsausdruck an und sagte zu ihm: »Du denkst darüber nach, wie anfällig ich in dieser Situation bin und wie du mich nun schlagen könntest. Das würdest du doch aber niemals tun, richtig?« Der Schüler erschrak, denn es war genau das, was er in diesem Moment dachte. Ueshiba wurde durch solche Geschichten zu einem mystischen Krieger mit geheimnisvollen Kräften gemacht, der jeden Angriff vorhersagen konnte. Morihei als erfahrener Kämpfer hatte jedoch einfach ein Gefühl dafür entwickelt, aus Zeichen, die Menschen mit weniger Erfahrung bestenfalls als vages »Bauchgefühl« wahrnehmen, Dinge, wie die Absicht anzugreifen, zu erspüren.
Machen Sie sich klar, dass grundsätzlich alle Menschen Gegner sein können, auch diejenigen, die Ihnen freundschaftlich und wohlgesonnen erscheinen. Finden Sie heraus, wer Ihre Gegner sind. Erkennen Sie, wer indirekt gegen Sie arbeitet, wer sich wünscht, dass Sie krank und schwach sind. »Auf das Gras schlagen, um die Schlange aufzuscheuchen«, heißt das 13. chinesische Strategem.3 Máo setzte diese Taktik in seiner Kampagne »Lasst hundert Blumen blühen« ein. Er erlaubte jedem, frei zu reden und zu kritisieren. Dadurch erfuhr er, wer seine Gegner waren. Erkennen Sie ebenfalls Ihre Gegner und seien Sie nicht so naiv zu denken, dass Sie keine Gegner haben. Je erfolgreicher Sie werden, desto mehr Gegner bekommen Sie. Manchmal sind es nur Neider, manchmal Todfeinde. Bringen Sie Ihre Gegner dazu, ihre Emotionen zu zeigen, während Sie selbst Ihre Gefühle verbergen.
Jeder Mensch hat ein gewisses Eigeninteresse und eigene Ziele. Wollen Sie Hilfe und Zustimmung, denken Sie daran, wie Sie das Eigeninteresse und die Ziele derjenigen befriedigen können, die Sie um Hilfe bitten wollen oder müssen. Verlassen Sie sich niemals darauf, dass Menschen Ihnen aus Mitleid helfen werden.
Dominanz
Bei allen Aspekten des Selbstschutzes gehen wir davon aus, dass wir den Gegner dominieren müssen. Alle Fähigkeiten, die wir haben oder uns aneignen