Gewalt. Frank Rudolph

Gewalt - Frank Rudolph


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da, wenn wir auf offener Straße, bei Tag oder Nacht, angegriffen, schwer verletzt oder getötet werden. Je besser der Staat zu sein scheint und je demokratischer seine Ausrichtung, desto weniger werden Sie vor Übergriffen durch Gewalttäter sicher sein. In autoritären Regimes wirkt die vom Staat ausgeübte Gewalt, die massive Präsenz von Polizei und Militär der Gewalttätigkeit Krimineller wirksamer entgegen, als dies in Demokratien der Fall ist. Doch der Preis für die höhere Sicherheit ist die Beschränkung der persönlichen Freiheiten.

      Verlassen Sie sich nur auf sich selbst, wenn es um Ihre Sicherheit geht. – Gewinnen ist eine Angewohnheit … Es liegt vollkommen bei Ihnen, wie Sie mit einer realen Gefahr von Seiten anderer Menschen umgehen. Das Motto für die Art des Kämpfen, die wir für sinnvoll halten, lautet: »Agiere, wenn du kannst; reagiere, wenn du musst.« Beim ersten Anzeichen einer gegen Sie gerichteten Gefahr müssen Sie der Bedrohung zuvorkommen. Lassen Sie sich niemals das Heft aus der Hand nehmen. Ergreifen Sie vor ihrem Kontrahenten die Initiative, machen Sie seine Vorteile zunichte. Es kann natürlich sein, dass ein erheblicher Unterschied in Ihrer Biographie und der Ihres Angreifers existiert. Sie sind vielleicht von Natur aus friedfertig, und das kriminelle Milieu ist Ihnen völlig fremd. Ihr Gegner hat dagegen vielleicht schon Jahre hinter Gittern verbracht. Damit haben Sie wahrscheinlich einen gut motivierten und umfassend trainierten Kämpfer vor sich. Denn das Gefängnis dient vielen Insassen in dieser Hinsicht als »Schule«. Werden sie entlassen, sind sie oft gefährlicher als vorher. Sie sind häufig voll Hass, haben nur wenige Skrupel, aber dafür haben sie viel Erfahrung darin gesammelt, wie sie friedfertige Leute noch besser terrorisieren können als zuvor. Sollten Sie von einem derartigen Zeitgenossen angegriffen werden und bringen nicht die nötige Entschlossenheit zur Gegenwehr mit, dann haben Sie verloren.

      Vergessen Sie, wenn Sie bedroht werden, aber jeglichen Vorsatz in Bezug auf Ihre Techniken. Techniken lassen Sie nachdenken. Vergessen Sie auch alles, was Sie über die Verhältnismäßigkeit der Mittel gehört haben.3 Das würde Sie in die Defensive zwingen. Während eines gegen Sie gerichteten Übergriffs haben Sie keine Zeit, über solche Aspekte nachzudenken. Lassen Sie das Tier in sich los. Oder anders ausgedrückt: Ihre Gegengewalt muss die gegen Sie verübte seelische oder körperliche Gewalt noch überbieten.

      In einem Kampf auf Leben und Tod können Sie sich keine Skrupel erlauben.4 Aber woher soll man wissen, ob man sich mit allen Mitteln schützen muss oder ob es sich bloß um eine normale Rauferei handelt? Nun, das herauszufinden ist recht einfach. Entweder Sie üben sich im Kämpfen, und wenn Sie das nicht wollen oder können, dann verlassen Sie sich auf Ihre Instinkte. Meist werden Sie damit richtig liegen. Aber um es noch einmal klar auszudrücken, für einen im Kämpfen mehr oder weniger unerfahrenen Menschen kann sich eine bewusste Situationsanalyse fatal auswirken. Die Sekunden, die Sie benötigen, um sich angemessen zu entscheiden, sind vielleicht die letzten Ihres Lebens. Gehen Sie kein Risiko ein. Das heißt zum Beispiel: Greift man Sie mit einem Faustschlag an, kontern Sie mit einem Handkantenschlag auf die Halsschlagadern Ihres Kontrahenten und zwar mit doppelter Wucht und Aggressivität.5 Wer das für übertrieben hält, dem halten wir entgegen, dass der Angriff mittels Faustschlag meist nur der Auftakt ist und dass manche Schläger, wenn sie erst die Oberhand gewonnen haben, eine geradezu unglaubliche Brutalität entwickeln und selbst reglos am Boden liegende Opfer noch mit Fußtritten traktieren, und dies ohne die geringsten Hemmungen. Wenn man die Gewalt nicht im Ansatz neutralisiert, hat man oft keine Chance mehr dazu. Wer will also entscheiden, was für unser eigenes Leben das Beste ist? Das kann niemand, weder ein Richter, noch ein Staatsanwalt oder ein Polizist. Wir persönlich fänden es sehr vermessen, wenn uns jemand vorschreiben wollte, wie und mit welchen Mitteln wir uns verteidigen dürfen. Wenn wir angegriffen werden, dann haben wir jedes natürliche Recht, unser Leben zu schützen. Kommt unser Kontrahent dabei zu Schaden, ist dies nicht unsere Schuld. Er hätte eben seine Finger von uns lassen müssen.

      Wir geben zu, dass es im größten Teil der Welt die meiste Zeit über friedlich zugeht. Auch in unserem Land mit seinen über 80 Millionen Einwohnern gibt es verhältnismäßig wenige »Entgleisungen«. Dieser Zustand ist lobenswert, doch trügerisch. Wir verlernen heute im Großen und Ganzen, uns auf uns selbst zu verlassen, auf unsere Sinne und Instinkte zu vertrauen. Es gab sicher nicht viele Zeitpunkte in der Geschichte, in denen wir Kurse und Seminare besuchen konnten und mussten, in denen wir dieses Auf-uns-selbst-vertrauen von Grund auf erlernen müssen. Jahrtausendelang war das eine reine Selbstverständlichkeit. Soldaten, Krieger und auch Jäger der früheren Tage bekamen leicht ein Gespür für die Situation. Sie erkannten Gefahren, ehe sie sich manifestierten. Wir hingegen bekommen kaum noch etwas von dem mit, was sich um uns herum abspielt. Funakoshi Gichin6 sagte einst: »Unglück geschieht immer aus Unachtsamkeit«. Das können wir unterschreiben.

      Eine Biene sticht, wenn sie angegriffen wird oder wenn sie sich bedroht fühlt.1 Dass sie dafür sterben muss, ist der Preis, den sie dafür zahlt. Dieses Verhalten ist wirklich interessant, da die meisten wehrfähigen Insekten keinen so hohen Preis für ihre Verteidigung zahlen. Auf den Menschen übertragen heißt das, wir sind friedlich, solange wir nicht bedroht werden. Aber falls man uns angreift, nutzen wir jedes zur Verfügung stehende Mittel zu unserem Schutz, wenn es sein muss, unter Einsatz des eigenen Lebens.

      Um sich selbst zu schützen, benötigt man eigentlich keine gezielte Ausbildung. Jeder Mensch hat das Rüstzeug für die Verteidigung und den Angriff von der Natur mitbekommen. Aber aufgrund der vielen Bequemlichkeiten im Alltag hat sich der moderne Mensch vom »Normalfall« weit entfernt. In diversen Selbstverteidigungskursen wird suggeriert, dass jeder, wenn er nur ein paar einfache Tricks lernt, sich wirksam verteidigen könne. Das ist leider ein Wunschtraum.

      Vor einiger Zeit besuchten wir einen Lehrgang für Behinderten-Selbstverteidigung. Den Teilnehmern, meist Rollstuhlfahrer, wurde gezeigt, wie sie sich im Falle eines Überfalls zu wehren hätten. Die vorgegebenen Beispiele funktionierten aber nur, wenn der potentielle Angreifer von vorn kommt und als solcher zu erkennen ist. Solche Angreifer gibt es nicht. Das ist nicht realistisch. Auch wenn es unangenehm ist, so etwas gesagt zu bekommen: Ein entschlossener Gewalttäter überrumpelt schon die meisten gesunden Menschen. Ein Rollstuhlfahrer hat außer lautem Schreien so gut wie keine Möglichkeit, sich vor einem Überfall zu schützen. Es sei denn, er besitzt eine Schusswaffe, kann mit dieser umgehen, hat die Waffe auch rechtzeitig zur Hand und, vor allem, erkennt den Angreifer früh genug als solchen …

      Foto 1

      Foto 2

      Foto 3

      Fotos 1 bis 3: In einem für Sie aussichtslosen scheinenden Kampf mit einem körperlich überlegenen Gegner, in dem ihr Leben bedroht ist, greifen Sie mit aller Macht einen letalen Punkt (zum Beispiel Kehlkopf oder Genick) an. Die Bilder zeigen einen Angriff von zwei Seiten auf den Hals. Aus dem gegenläufigen Zug und Druck kann der Angreifer nur schwer entkommen. Seien Sie sich bewusst, dass Sie in einer solchen Situation höchstwahrscheinlich selbst schwere Schäden erleiden werden, da der Angreifer Sie hemmungslos attackiert.

      Foto 4

      Foto 5

      Foto 6

      Foto 7

      Fotos 4 bis 7: In den Formen der traditionellen Kampfkünste sind viele Techniken enthalten, die Anwendungen, wie sie auf Fotos 1 bis 3 gezeigt werden, entsprechen. Hier ein Beispiel aus dem chinesischen Kampfstil bāguàzhǎng.

      Das


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