Explorer ENTHYMESIS. Matthias Falke

Explorer ENTHYMESIS - Matthias Falke


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      »Hinter dir!«

      Aber ich sah schon selbst. Schräg hinter uns, in Westnordwest etwa, war ein drittes dieser Dinger ausgebrochen. Das war eine regelrechte Pest hier! Und seine Stirnmoräne prallte eben, keine achthundert Meter hinter uns, mit der ersten zusammen, der wir gerade ausgewichen waren. Die beiden Eis- und Geröll-Fronten verkeilten sich ineinander und bäumten sich auf, um dann, wie eine Brandungswoge, die sich reißend überschlägt, nach Süden hin umzukippen und mit verdoppelter Wucht und erderschütternder Gewalt auf uns loszutoben. Ich nahm die Beine in die Hand und rannte, wie ich seit dem Abschluß-Sportfest an der Akademie vor 78 Jahren nicht mehr gerannt war. Stechende Schmerzen zuckten durch mein rechtes Knie, und die Automatik faselte etwas von.

      »Ausfall im Sensoriellen Bereich. Defekte Isolierung im rechten Knie und Unterschenkel.«

      »Jennifer!«, schrie ich. »Wir haben keine Chance!«

      Ich hörte sie japsen, sie rang nach Luft und Ideen – dabei war sie viele Jahrzehnte jünger als ich!

      »Wir müssen oben drauf ...«

      »Auf’s Eis?«

      »Auf’s Eis! Hier unten werden wir platt gemacht.«

      »Ich glaube, du spinnst!«

      »Vertrau’ einem alten Bergsteiger. Ich bin in Alaska auf Gletschern rumgestiefelt, dagegen sind diese Dinger ein Scheiß !«

      Aber wir hatten gar keine Zeit mehr für große Diskussionen. Hinter uns brodelte gischtgrünes Chaos heran. Ich winkte Jennifer weiter nach links, wo wir den Hauptstoß an uns vorüberrauschen ließen. Die südwestliche Front näherte sich vergleichsweise gemächlich.

      »Dämpfer volle Leistung!«, befahl ich.

      »Maximale Dämpfung 52% ...«

      »In Ordnung. Und Stabilisatoren weg!«

      Ich nahm Jennifer bei der Hand, wir sprangen auf das rieselnde Geröll der Stirnmoräne, in deren grundlosem Kies wir uns bis zur Krone hinaufwühlten. Direkt vor uns brach eine Eisscholle von sechs Metern Höhe ab, zerbarst zu scharfkantigen Splittern und wurde sofort untergepflügt. Dahinter tauchte eine poröse Rampe von blasigem, längst zermahlenem, fast schneeigem Gekoller auf. Es musste uns einfach tragen! Wir setzten hinüber und strauchelten den vibrierenden Hang hinauf. Es war, als liefen wir einem monströsen Untier direkt in den Rachen hinein. Dann waren wir auf der tanzenden und schlingernden Hochfläche, fünfzehn, zwanzig Meter über der Ebene. Eine weißgraue Landschaft von zerscherbtem Eis, bis zum Horizont, überall korkten mächtige Trümmer auf, die wie balzende Wale über die Fluten aus gefrorenem Ammoniak hinausbrachen und donnernd wieder eingeschluckt wurden. Spalten rissen auf, die im nächsten Moment zusammengesaugt und wie krachende Kiefer wieder geschlossen wurden. Es war ein Inferno aus verflüssigtem Kristall.

      »Oh, mein Gott!«, hörte ich Jennifer.

      »Wir dürfen nicht stehen bleiben«, rief ich ihr zu. »Versuch weiter hinaufzukommen. Da muss es ruhiger sein.«

      Irgendwie gelang es uns, eine Insel, eine bewegungslose Fläche zu erreichen, auf der wir uns vorsichtig niederließen. Nur bisweilen spürte man noch eine leichte Dünung, ein elastisches Krängen, wenn ferne Erschütterungen durch das plastische, gleichermaßen spröde und viskose Eis hindurchliefen. Wir drehten die Stabilisatoren hoch und verstärkten die Abschirmung. Wenn wir nicht in einen Schrund hineinfielen, konnte uns vorerst nichts passieren.

      Stehen bleiben und pumpen.

      »Ich kann nicht mehr«, hörte ich ihren Atem an meinem Ohr. Ganz nah. Fast meinte ich, ihre Lippen zu spüren. Wie gerne hätte ich sie jetzt ... Ihr Keuchen klang komisch ... Weinte sie? Das fehlte gerade, dass jetzt einer von uns die Nerven verlor. Ich beschloss, gar nicht darauf einzugehen, denn ich fühlte, wie ich allmählich auch etwas labil wurde. Klammheimlich betätigte ich den kleinen Schalter am Halsansatz, der die hormonelle Abkühlung regelt. Verdammt aber auch! Das war eine verfahrene Situation, wie sie bis jetzt höchstens einmal ...

      »In so ‘nem Schlamassel war ich bisher nur am Japetus. Da sind wir in unzugängliches Gelände abgestürzt, wo die Rettungsdrohnen nicht landen konnten. Am Schluß haben wir einen, dessen Anzug im Eimer war, sogar ...«

      Warum kam ich da erst jetzt drauf? Dass aber auch die Automatik einen in solchen Fällen keinen Vorschlag machen konnte! Selbst die raffiniertesten Systeme virtueller Intelligenz waren und blieben rein reaktiv. Einfälle und »Ideen« musste man selber haben- oder man konnte krepieren. Seit vier Tagen quälten wir uns hier durch die Öde. Mir taten die Knochen weh, schlimmer als nach meiner ersten Westalpen-Tour, und wie Jennifers Beine aussahen, wollte ich gar nicht wissen. Aber auf den Gedanken kam ich erst jetzt!

      »Automatik!« Ich mochte diese direkte Ansprache nicht, die fast ein Umratfragen war, aber es ging nun einmal nicht anders. »Lagebericht Abschirmung und Dämpfung! Energiereserven!«

      »Abschirmung bei 100%. Dämpfung 49%. Energiereserven für 500 Stunden.«

      »Ist es möglich, ein zweites System zu synchronisieren und virtuelle Abschirmung und Dämpfung zu simulieren?«

      »Moment ...«

      Aha! Immerhin kam nicht sofort die Absage. Auch irgendwie tröstlich, dass selbst ein Automatik-Anzug der III. Generation erst mal überlegen musste.

      »Was hast du vor?«, erwachte sie neben mir aus ihrer Lethargie, aber ich konnte jetzt nicht gentleman-like sein.

      »Jennylein, was wiegst du denn eigentlich?«

      »Bitte?«

      »Komm schon! Keine Zeit für Eitelkeiten.«

      »Na ich, so-wie-ich-bin, vielleicht 55 kg. Aber mit dem ganzen Kladderadatsch ... Warum fragst du?«

      »Synchronisierte Dämpfung möglich bei vollständiger Energie-Transmission des Sekundären Systems. Virtuelle Dämpfung 87%. Mögliche additive Abschirm-Masse 67 kg.«

      »OK«, sagte ich zu Jennifer. »Schmeiß alles weg! Jetzt geht’s um jedes Kilopond. Hol die Scanner raus. Automatik. Primären Speicher komprimieren. Lagebericht verfügbare Kapazität!«

      Es summte eine Weile, bis die Daten, die wir auf diesem Trip gesammelt hatten, gepackt waren. Alles, was wir vom Pol aus überspielt hatten, ließ ich löschen.

      »Freie Kapazität. 12.357 Tera-Byte. Virtueller Speicher 50.428 ...«

      »In Ordnung! Jennifer, überspiel alles, was wir in den Scannern haben, auf meine Automatik.«

      Das dauerte ein paar Sekunden. Dann ließ sie ihre Lieblingsinstrumente auf das schattige Eis fallen. Ich kramte in ihrem Tornister rum, aber da war auch nichts Überlebensnotwendiges mehr drin, und warf ihn weg. Ich ließ meine Automatik mit der ihren synchron gehen und alle Funktionen für sie simulieren. Wir durften uns jetzt nicht mehr auseinanderbewegen,, mussten sozusagen Körperkontakt wahren.

      »Dreh dich um!«

      »Was machst du?«

      »Frag nicht soviel!«

      Aber da hatte ich schon ihr Rückenfach geöffnet. Ich zog den KERN heraus, das Herzstück ihrer Automatik. Das Ding wog zehn Kilo, hier also 16. Ich schmiss es in einen grünlichen Riss, der sich neben uns aufgetan hatte und in dem es zischend verschwand. Die ganze Zeit hielt ich sie am Arm. Wir durften jetzt keinen Fehler mehr machen. Aber als ich sie um mich herumziehen wollte, sträubte sie sich. Sie kam mit dem Helm ganz dicht vor meinen und befahl: »Visier-Polarisation synchronisieren!«

      Dann sah ich zum ersten Mal seit vier Tagen, seit sie sich, in der Kuppel auf der Koje liegend, langsam aufgerichtet und mich staunend und fassungslos angestarrt hatte, ihre Augen. Sie waren verschattet und entzündet. Das herrliche Braun war stumpf und von roten Furchen umlagert. Aber es war ihr Blick, der Blick, den sie mir vor vielen Jahren, in unserer ersten Nacht geschenkt hatte, dunkel und verheißungsvoll. Und ich hörte ihre raue, ein wenig belegte, warme und tröstende Altstimme an meinem Ohr, als flüstere sie direkt an meiner grauen Schläfe.

      »Wenn


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