Explorer ENTHYMESIS. Matthias Falke

Explorer ENTHYMESIS - Matthias Falke


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Gerade betrachtete sie nachdenklich ihren linken großen Zeh. Sie hatte es fertiggebracht, sich Blasen zu laufen. Wie das in den sensoriellen Anzügen möglich ist, war mit zwar unerklärlich, aber es war nun nichts zu machen. Ich behandelte sie mit Dermital-Spray, verödete die größten Löcher – zu was so ein Hochenergie-Scanner nicht alles gut ist! –, und massierte dann lange ihre geschundenen Füße, deren mediterranes Braun sich aufs Allererotischste vom Baumwoll-Weiß unserer Anzüge abhob. Nach Abendessen und Lagebesprechung gingen wir gleich ins Bett, und immerhin hatte sie ihre Koje heute direkt neben meiner geparkt. Das sah ja schon fast nach Versöhnung aus. Zu was gemeinsame Abenteuer nicht immer gut sind! Wir lagen noch eine Weile im polarisierten Licht und plauderten nach dem Motto:

      »Du ...«

      »Mmm ...?«

      »Wie du mich da heute rausgeholt hast ...«

      »Mhm? ...«

      »Das war sehr – souverän. Danke!«

      Und dann fragte ich sie, ob sie Angst gehabt hätte, und sie meinte. »Klar!, aber viel größeren Schiss habe ich gehabt, als du an der Kante standest und das Ding hinter dir über den Kraterrand kam und seinen Dreißig-Metert-Hals langsam runterbeugte. Also, das hättest du echt sehen müssen!« Und dann fragte sie mich, ob ich denn keine Angst gehabt hätte. Naja, ich tastete mich mal langsam vor, aber als ich in der Luft rumgerudert hatte, war die Übertragung wohl schon ziemlich im Eimer gewesen, und sie hatte jedenfalls nicht gehört, wie ich geschrien hatte. Ich beschränkte mich also auf allgemeine Andeutungen, so nach dem Motto:

      »Hab’ ich dir mal erzählt, wie ich auf Merkur war und mein Anzug gerissen ist, und draußen herrschten 270°C – und gleichzeitig natürlich extremer Unterdruck?«

      »Und?«

      »Das war schlimmer!«

      Dann lagen wir wieder da und lauschten auf das feine Singen des virtuellen Kreisel-Kompasses, der die Deformationen, die der Sturm unserer schönen Jurte beibringen wollte, ausglich und abfederte.

      »Du ...«

      »Mmm?«

      »Wie alt willst du werden?«

      Denn das konnte man sich ja weitgehend aussuchen. Natürlich nicht auf den Tag genau. kaum das Jahr. Nur so grob eben, wie es der genetischen Disposition unterlag, ob man nun achtzig, neunzig – das war etwa die Regel – oder meinetwegen hundertzehn werden wollte. Es gab auch kühne Einzelkämpfer – oft sogenannte »Selbstversuche« im Regierungsauftrag –, die hatten sich auf »unsterblich« programmieren lassen. Die Ältesten von ihnen – mal überschlagen, so lange gab’s die Möglichkeit noch gar nicht – mussten jetzt rund dreihundert Lenze auf dem Buckel haben. Die meisten hatten aber bald die Schnauze voll – so nach hundertfünfzig Jahren wurde es anscheinend langweilig –, und ließen sich dann ganz gelassen wegspritzen. Natürlich lag es vor allem an den Eltern, wie die einen designt hatten. Postnatale Eingriffe waren schwierig. Und sie wurden um so schwieriger, je später sie durchgeführt wurden. Äußere Einflüsse kamen komplizierend dazu. Etwa bei uns Nordlandfahrern. Es gab immer noch keine genauen Untersuchungen darüber, wie Erd- und Raumjahre – die bei mir schon um mehr als Faktor 2 auseinanderklafften – gegeneinander zu verrechnen seien.

      »Ich habe mich auf hundert Erdumläufe eintragen lassen, das ist ‘ne runde Sache und auch nicht übertrieben bescheiden. Schließlich ist man ja wer. Davon habe ich jetzt satt die Hälfte rum. Nach diesem Trip hier wird mein Zähler auf 54 stehen. Warum fragst du?«

      Aber von drüben kam nur noch ein genießerisches Grunzen, und ich hörte, wie sie sich auf ihrer Koje herumwarf. Hatte sie sich erkundigen wollen, ob ich noch in Frage kam? Wie war wohl ihr genauer Kontostand? Dann wurde es ruhig. In dieser Nacht schlief ich sehr gut.

      Wir waren am Pol. Seine Position bestimmte Jennifer auf 88° 17’ Nördlicher Breite und 27° 25-30’ Östlicher Länge. Eine genauere Eingrenzung schien nicht möglich, wie es sich überhaupt um kein punktförmiges Datum handelte. Vielmehr schien ein breitgestreutes Bündel von Strahlungen und Feldkräften hier die äußere Lithosphäre zu durchstoßen. Die Abschirmungen unserer Anzüge liefen auf höchster Energie. In einem konventionellen Raumanzug hätte ein Mensch zu leuchten angefangen, und auch so sprühte uns Elmsfeuer von Fingerspitzen und Antennen. Die Lokale Kommunikation arbeitete auf allen Frequenzen gleichzeitig. Trotzdem konnten wir uns nur in unmittelbarer Nähe miteinander verständigen. Wir mussten uns gewissermaßen durch die Helme hindurch in die Ohren schreien. Ein ständiges Summen und Knistern störte die Automatik und ließ sich nicht überdämpfen.

      »Was machen wir hier?«, gellte sie durch den Krach. »Dagegen waren ja die Außenarbeiten auf Pluto noch gemütlich! Was ist das für ein gottverlassener Ort?! Will nicht wissen, was wir hier an Bequerel einfahren ...«

      »Pass auf«, ging ich routiniert dazwischen. »Gib mir deinen Tornister!«

      Sie schmiss mir ihren Rucksack vor die Füße, der, sowie er den Boden berührte, von einer Korona hellblauer Funken umflossen wurde. Der Sturm, der satte Orkanstärke haben musste, zerrte an den Trägern und Außenscannern, die nicht der Stabilisation unterlagen. Eben brannte eine zinnoberrote Wolke über uns ab, deren glosendes Licht wie Schrapnellfeuer zwischen uns herumflackerte. Vor meiner Stirn sprang eine dieser roten Dioden an.

      »Exponentielle Energie-Ausbrüche. unmodulierte Schauer ionisierter Strahlung. Abschirmung auf 105%!«

      »Das ist hier ‘ne gigantische Mikrowelle«, kommentierte sie schon wieder. »Wir werden lebendig gegrillt!«

      Aber ich war jetzt ganz ruhig. Ich dachte an Blizzards und Monsun-Stürme, die ich so mitgemacht hatte, an das Biwak am Mt. McKinley, an die Notlandung auf Japetus und so weiter. Die Automatik hatte die volle Kontrolle über mein vegetatives System und regelte meinen Puls auf 55 herunter. Sämtliche Botenstoffe wurden unterdrückt. Ich war kalt wie ein Droid. Aus Jennifers Equipment – »Das wollte ich eh’ noch fragen: was ich da eigentlich seit drei Tagen so rumschleppe!?« – nahm ich ein handlanges Gerät. Auf einem kleinen ausfahrbaren Dreibein stellte ich es in das farblose Geröll, das gerade unter heftiger ultravioletter Strahlung phosphoreszierte, und richtete es aus, so gut es eben ging. Der nächste der etwa 300 stationären Satelliten, die wir in den vergangenen Wochen über den Orbit von Lu-Au verteilt hatten, musste bei 75°N / 30°O stehen. Den peilte ich jetzt auf’s Geratewohl an.

      »Sagt mir der Herr Expeditionsleiter jetzt bitte, bitte, was das ist?«

      »Ein Röntgen-Maser. Der stärkste, den es gibt. Wenn wir damit keine Relais-Verbindung kriegen, können wir gleich einpacken und nach Hause gehen. Und noch was: Ich würde nicht durch den Richtstrahl laufen. Der verdampft dich zu Positronen-Suppe, so schnell kannst du gar nicht gucken!«

      Ich setzte das Maschinchen in Betrieb, und da die lokale Kommunikation selbst auf die paar Schritt zu kämpfen hatte, holte ich ein gutes altes Glasfaser-Kabel aus der Tasche – es war mir ja fast peinlich –, und stöpselte den Sender direkt in meine Automatik ein.

      »Peilen!«, befahl ich dann und beobachtete, wie der Maser ein dünnes Strahlenbündel von einer Bogen-Sekunde Streuung in die Ionosphäre schickte. Ein kupfersulfatfarbenes Leuchten zeichnete das Linienspiel des an sich unsichtbaren Röntgenstrahls nach. Die Atmosphäre knisterte. Ein Kokon elektrischer Entladungen spann sich um den Maser herum. Wir gingen vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. Das Kabel war ja lang genug.

      »Und wenn du die Verbindung hast, quatschen wir mit Dr. Rogers über’s Wetter ...«

      »Dann installieren wir einen Richtstrahl und bringen eine Sonde runter.«

      »Aha!«

      Es dauerte mehrere Minuten, bis der Kontakt zu einem stationären Satelliten aufgebaut war. Aber war ja schon fraglich gewesen, ob das überhaupt funktionieren konnte. Der Röntgen-Beamer justierte sich automatisch nach und fokussierte dann seinen Suchstrahl auf Hochenergie-Übertragung, die punktgenau auf das Auge des Satelliten, 40 000 Kilometer über uns, ausgerichtet war. Eine Sekunde später hatte ich die Geologische im Kopfhörer. Ich machte Meldung.

      »Planetarische Exkursion


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