Raus aus der Mutterfalle. Dorothee Döring

Raus aus der Mutterfalle - Dorothee Döring


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      Aber nicht immer verläuft die Bindung zwischen Mutter und Kind so störungsfrei.

      Bei Müttern, die nach der Geburt eine Depression, auch „Babyblues" genannt, entwickeln, ist die sensible Bindungsphase krankheitsbedingt gestört. Die Mutter leidet an Ängsten, Zwangsgedanken oder Schuldgefühlen und hat ihrem Kind gegenüber zwiespältige Gefühle. Meist ist eine stationäre Behandlung notwendig. Obwohl depressive Mütter stark leiden, gibt es doch zumindest eine positive Prognose: In den meisten Fällen klingt eine postnatale Depression wieder vollständig ab.

      Was aber passiert, wenn die Mutterliebe fehlt und sich auch später nicht einstellt? Jede Woche wird in Deutschland ein Baby ausgesetzt. Nur etwa die Hälfte aller Säuglinge überlebt eine solche Verzweiflungstat der eigenen Mutter. Es gibt aber auch Mütter, die grundsätzlich nicht zur Mutterliebe fähig sind.

      Darüber hinaus gibt es Frauen, die ihre Schwangerschaft verdrängt haben und dann selbst völlig überrascht von der Geburt sind und in Panik geraten. Im günstigsten Fall für das Kind wird es in der Babyklappe abgelegt.

      Eine junge Frau erzählte in einem Interview, sie sei in Panik gewesen, weil sie nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt habe. Allein habe sie entbunden und sich zur Babyklappe des Krankenhauses geschleppt, um ihren Sohn dort abzugeben. Nach einigen Tagen habe sie realisiert, was geschehen sei und gespürt, wie sich eine tiefe Liebe zu ihrem Kind entwickelt habe. Sie sei zum Krankenhaus gegangen, habe sich als die Mutter des anonymen Babys zu erkennen gegeben und ihr Kind zurückgefordert.

      Das Beispiel zeigt, dass Mutterliebe oft nur Zeit braucht. Manchmal bleibt sie aber auch ganz aus, vor allem bei Müttern, die selbst keine Wärme, Liebe und Geborgenheit erfahren haben. Wenn die Mutterliebe fehlt, reicht das Spektrum der Folgen für ein Kind, unabhängig von der sozialen Schicht, von emotionaler Kälte über Vernachlässigung bis hin zu körperlicher Gewalt.

      Frauen, die nicht erkannt werden wollten, sprachen in einem Interview auch über das Tabu der Kindstötung. Eine junge Frau, die zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde und die unerkannt bleiben wollte, setzte ihr Kind am Tag der Geburt aus und nahm seinen Tod „billigend in Kauf". Ihre kleine Tochter erfror nur wenige Schritte vom elterlichen Haus entfernt. Die Mutter sagt, sie habe sich nicht zu helfen gewusst, einfach nicht gewusst, was sie machen sollte.

      „Es gibt nur eine ganz selbstlose, ganz reine, ganz göttliche Liebe, und das ist die der Mutter für das Kind", so beschrieb einst der deutsche Schriftsteller Georg Ebers (1837-1898) Mutterliebe und unterstützte damit den Muttermythos. In einfühlsamer und kompetenter Weise analysiert die Schweizer Psychologin und Psychotherapeutin Gabi Gschwend in ihrem Buch „Mütter ohne Liebe. Vom Mythos der Mutter und seinen Tabus"2 die fatalen Konsequenzen eines überhöhten, romantisierten Mutterideals.

      Sie kann auf eine Reihe von guten Gründen verweisen, den Muttermythos kritisch zu hinterfragen. So führe die Vorstellung der unerschöpflichen Mutterliebe zu einer Verdrängung und Verleugnung der negativen Seiten der Mutterschaft und ambivalenter oder auch negativer Gefühle.

      Die den Muttermythos verherrlichenden Medien vermittelten ein Bild des Mutterseins als Hort reinen Glücks und permanenter Erfüllung, verschwiegen jedoch beispielsweise die Monotonie, die Einsamkeit und die „gnadenlose Häuslichkeit", die mit der Kindererziehung einhergehe. Gefühle der Frustration, Erschöpfung und auch der Wut lösten vielfach Schuldgefühle bei den Müttern aus, würden jedoch verleugnet und verdrängt, da sie nicht dem Bild einer „guten Mutter" entsprächen.

      Dadurch verschwänden sie aber nicht, sondern äußerten sich häufig in destruktiver Weise. Gschwend sieht Lieblosigkeit und familiäre Gewalt als direkte Folge der Normen des Muttermythos. Wer seine negativen Gefühle abkapsele, weil sie mit dem Müttermythos nicht vereinbar seien, der könne auch seine positiven Gefühle wie Liebe nicht spüren.

      Die Autorin zeigt, dass die Vorstellung, eine Mutter sei in jedem Fall - zumindest in den ersten Lebensjahren - das Beste für ihr Kind und andere Bezugs- oder Betreuungspersonen die zweite und schlechtere Wahl, eine durch den Muttermythos unterstützte Ansicht ist. Sie plädiert dafür, eine realistischere Sichtweise der Mutter-Kind-Beziehung einzunehmen und auch die Schattenseiten, die dem gesellschaftlichen Bild der „idealen Mutter" nicht entsprechen, ins Bewusstsein zu heben und anzunehmen. Dazu gehören etwa negative Gefühle dem Kind gegenüber, die wohl jede Mutter in manchen Situationen verspürt, aber auch die Existenz „liebloser Mütter", die nicht fähig oder bereit sind, ihr Kind bedingungslos anzunehmen.

      Die Abkehr vom vorherrschenden Muttermythos stellt Gschwend sowohl für die Mutter als auch für das Kind als Gewinn dar. Durch die Abkehr von der Tabuisierung und Verleugnung negativer Aspekte werde der Mutter eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der eigenen Mütterlichkeit ermöglicht, die gleichzeitig auch das Bild der „schlechten Mutter" relativiere und somit entlastend wirke. Auf der anderen Seite könne die Abkehr von der Verklärung der Mutter-Kind-Beziehung auch die Augen dafür öffnen, dass es destruktive Mutter-Kind-Beziehungen durchaus gebe. Obwohl es sich um ein gesellschaftlich brisantes Thema handelt, zeichnet die Autorin ein realistisches Bild, dass die Mutter-Kind-Beziehung meist zwischen den beiden Polen der allumfassenden Liebe zu jedem Zeitpunkt einerseits und massiver Ablehnung und Destruktivität andererseits angesiedelt sei. Glück, Zärtlichkeit und das Gefühl der Verbundenheit fänden darin ebenso Platz wie Enttäuschung, Wut und Frustration, die Vorstellung symbiotischer Verschmelzung ebenso wie ein ausgeprägtes Individuationsbedürfnis, also alle Facetten, die andere Liebesbeziehungen auch aufwiesen.

      Nach den Erfahrungen der Therapeutin stelle der Verzicht auf den Muttermythos sowohl für die Mutter als auch für das Kind einen Gewinn dar, weil die Abkehr von der Verklärung der Mutter-Kind-Beziehung auch die Augen dafür öffne, dass destruktive Mutter-Kind-Beziehungen durchaus weit verbreitet seien. Die Therapeutin erwartet von einer Durchbrechung des Muttermythos auch eine verstärkte soziale Kontrolle des Kindeswohls.

      Als Fazit bleibt, dass die Mutter-Kind-Beziehung wohl in den allermeisten Fällen zwischen den beiden Polen der „allumfassenden Liebe zu jedem Zeitpunkt" einerseits und „massiver Ablehnung und Destruktivität" andererseits angesiedelt ist.

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