Auslaufgebiet. Lotte Bromberg
seitlich ins Unterholz, fand eine kleine Lichtung mit Ausblick, ließ aus Gewohnheit die Hosen runter und ärgerte sich schon wieder. Wochen hatte er auf ihrer hölzernen Klobrille versessen. Er brauchte sich für nichts zu schämen, weder den Strahl noch den Hahn, aus dem er kam. Schließlich traf er jeden Eierbecher, strammstehend wie ein Stier.
Zufrieden sah er seinem Urin hinterher, folgte dem Bogen bis zum Ende, wo er spritzend und schäumend auf den Waldboden traf, wie ein Hochdruckreiniger den Sand wegspülte. Einen Stein freilegte oder was immer das war.
Sein Magen erkannte es als erster. Das Frühstücksbrötchen, die vier Eier im Glas, Schinkenspeck und Kaffee wollten zum Licht.
Er hatte ihnen keinen Willen entgegenzusetzen, als er begriff, daß er die Reste einer menschlichen Hand freipinkelte. Sie hatte die Farbe geräucherten Schinkens, angebissen von allen Seiten. Sein Urin tröpfelte aus, er taumelte und sein erstes wohlschmeckendes Frühstück seit drei Monaten landete in hohem Bogen auf dem Grunewalder Frühlingsboden. Er traf einen angeknabberten Ringfinger, der etwas abseits lag. Ein Knochen blinkte, eine Sehne hing, lang und weiß. Er wich zurück, sah hoch und entdeckte die zerfledderte Frauenleiche. Schultern, Reste von Armen. Der Kopf, Haare, das Gesicht. Unvollständig. Darüber eine Wolke von Insekten, schwarz, surrend, dröhnend. Sie hatten ihn entdeckt. Sie kamen auf ihn zu. Sein Pulsmesser piepte pausenlos. Er stolperte rückwärts, strauchelte, schlug sich die Knie auf und rannte um sein Leben.
Hauptkommissar Oskar Blum lauschte im Hausflur an einer klapprigen Wohnungstür. Vier Kripobeamte und ein falscher Paketbote warteten hinter ihm, die Waffen im Anschlag, den Blick auf die verschlossene Tür gerichtet. Es stank nach Katzenpisse, Kohlsuppe und billigem Rasierwasser. Unten im Haus plärrte ein Kind, ein Mann brüllte es nieder. Draußen schimpfte ein Martinshorn, dazwischen rief der Muezzin zum Gebet, Autos hupten wütend, Bremsen quietschten, Motoren heulten. Weddinger Sinfoniekonzert.
Sie hatten einen anonymen Hinweis bekommen, in der Wohnung fänden sie die gesuchten Doppelmörder, bewaffnet und bereit, diese Waffen auch einzusetzen. Aber Ismail hatte das Paket vergessen. Ausnahmsweise kam er pünktlich zum Dienst, frech grinsend in seiner DHL-Verkleidung, weil Oskar keinen Grund hatte, ihn zusammenzufalten. Und dann fehlte das Paket, das ihnen Zugang zur Wohnung verschaffen sollte.
Die Haustür klappte, fünf Kriminaler senkten die Waffen und drückten sich an die Wand. Ismail, der falsche Paketbote, beugte sich über das Treppengeländer. Sie erkannten das Schnaufen von Rudi, dem fettesten Streifenpolizisten des Weddings. Keuchend erreichte er mit letzter Kraft das vierte OG und streckte Ismail das Paket hin.
Alle gingen in Deckung, Ismail klingelte.
Nichts geschah.
»Paketpost«, rief er.
Sie hörten Schritte auf knarrendem Dielenboden, die Tür blieb zu.
»Keiner da«, sagte Ismail und zog sein falsches Lesegerät vor. »Ärgerlich, Bruder, mußt Du zur Post, um abzuholen. Echt blöd, wenn Du mich fragst.« Das Lesegrät piepte, die Tür öffnete sich einen Spalt. Ismail sah in schwarze, engstehende Augen unter gegeltem schwarzem Haar. »Wir ham nix bestellt«, sagte der Mann, fast noch ein Kind, und linste auf das Paket.
»Is’ mir egal«, sagte Ismail, »hier steht Al-Ahmadi und da auch.« Er tippte auf das Klingelschild.
»Der is’ verreist.«
»Macht drei Euro achtzig.«
Oskar verdrehte die Augen. Was waren denn das für Preise?
Die schwarzen Augen starrten Ismail an. »Muß ich Geld holen«, sagte der Junge.
»Mach det. Und ich kann nich’ wechseln.« Ismail stützte das Paket am Türrahmen ab und schob eine Fußspitze in die Tür. »Schweres Teil«, sagte er und grinste.
Der Junge ging Geld holen. Ismail gab die Tür frei und seine fünf Kollegen schlichen in die Wohnung. Ismail drückte Rudi das Paket in die dicken Finger, zog seine Dienstwaffe aus der Hosentasche und folgte den Kollegen. Der immer noch schnaufende Rudi sah ihm mit großen Augen zu.
»Drei achtzig, hat er gesagt.« Am Ende des langen Flurs, verhandelte der junge Mann mit einem Baßbariton, der ihm in einer Fremdsprache antwortete. Zu wenig Umlaute für den Türken Ismail.
Oskar wies die Kollegen auf die zwei Seiten des Flurs. Linke Seite die Küche, leer. Zurückgeschobene Stühle am Eßtisch, Essensreste, dreckige Porzellanteller, angebrochenes Fladenbrot, ein offenes Glas Oliven, eine Ketchupflasche. Das Bad daneben, gefüllt mit Flaschen und Tuben, drei Rasierapparaten, nassen Handtüchern am Boden, dazwischen schwarze Haare. In der Badewanne eine Plastiktüte, aus der Wäsche quoll. Ein Schlafzimmer mit großem Einzelbett, sorgfältig abgedeckt mit einer schimmernden schwarzen Decke.
»Passend, hat er gesagt. Kann nich’ wechseln.«
Der Bariton stieß kehlige Verwünschungen aus.
Rechte Seite eine Kammer, dunkel, muffig, fensterlos. Noch ein Schlafzimmer, alles leer. Zwei Einzelbetten, zerwühlt, ein voller Aschenbecher auf einem Plastikstuhl dazwischen, über der Rückenlehne gebrauchte Unterwäsche, neben dem Ascher ein teures Handy.
Dann eine geschlossene Tür. Oskar drückte die Klinke, erfolglos. Er zog den steckenden Schlüssel ab und legte ihn auf den Boden.
Blieb nur das Wohnzimmer, in dem die zwei Männer sprachen. Münzen klimperten.
Oskar holte tief Luft, nickte seinen Kollegen zu, gemeinsam stürmten sie los.
Der Junge hob den Kopf, auf dem schwarzglänzenden Couchtisch lagen lauter Euromünzen. Ein älterer Mann saß neben ihm, ein dritter mit glasigen Augen abseits, in der Hand eine Shisha.
Der junge Mann richtete sich auf und faßte in die Hosentasche. Oskar griff seinen Hosenbund im Kreuz, hob ihn an und ließ ihn fallen, mitten in die Münzen. Seine Hose rutschte bis unter die haarige Pofalte. Oskar drehte seinen Arm auf den Rücken und drückte den Kopf seitlich auf die Tischplatte. Der Junge brüllte wie am Spieß.
Der Ältere hob langsam die geschlossenen Hände hoch. Ein Kollege richtete die Waffe auf ihn. »Fallen lassen«, sagte er und deutete auf seine Hände. Euromünzen klimperten auf den Couchtisch.
Ismail stand mit gezogener Waffe in der Zimmertür, zog Handschellen aus dem Hosenbund und warf sie dem glasigen Shishamann zu. »Anschnallen, Bruder«, sagte er.
Rudi, der schnaufende Streifenpolizist, hatte eine Weile allein vor der Tür gewartet. Nachdem die direkte Gefahr gebannt war, wollte er allerdings auch nichts verpassen. Er rückte seine Mütze gerade, zog die Dienstwaffe und durchmaß den Flur. Den Blick voraus, wäre er fast über den Zimmerschlüssel gestolpert. »Tzzz, tzzz«. Er hob ächzend den Schlüssel auf und steckte ihn in das Schloß. Er wollte ihn eigentlich nur fest hineinstecken und drehte ihn um, damit er nicht wieder auf den Boden fiele. Aber dann offnete sich das Schloß. Er drückte die Klinke, ganz vorsichtig, die Waffe voraus.
»Na, was haben wir denn da«, sagte Oskar Blum aus dem Wohnzimmer. »Eine Halbautomatik. Dafür haben die Herren doch wohl nicht etwa einen Waffenschein?«
Der ältere Mann fluchte wieder in seiner fremden Sprache.
Rudi atmete tief ein und öffnete die Tür.
Auf ihn zu stürzte jaulend ein Bullterrier, wich Rudis Körpermasse aus und raste den Flur entlang. Rudi sah ihm verdutzt hinterher, da stürzte ein zweiter aus der Tür. In hohem Tempo erreichten sie das Wohnzimmer, sprangen auf den Couchtisch, schlitterten in die Euromünzen, knurrten und bellten mit sabbernden Mäulern.
Rudi sah in das Zimmer, als ihm ein dritter Bullterrier an den Hals sprang. Schreiend fiel er hintenüber auf die Dielen.
»Was zum Teufel …«, rief Oskar.
Der Bullterrier auf Rudi winselte, leckte sein Gesicht und pullerte ihm warm in die Uniform.
Oskar nahm die Hände von dem Jungen und versuchte, die zwei Bullterrier vom Couchtisch einzufangen. Einer sprang über einen Sessel und raste aus dem Zimmer. »Rudi, die Wohnungstür«, rief Oskar. Der geflüchtete Hund