Auslaufgebiet. Lotte Bromberg
Am folgenden Tag war er dann während einer Geiselnahme auf den Fußboden eines Weddinger Lehrerzimmers gekracht, hatte gezappelt und gesabbelt und sein Bewußtsein erst in einem Krankenhausbett wiedergefunden. Ungute Voraussetzungen für das Werben um eine so lange wie bildschöne Ärztin. Gewisse Meinungsverschiedenheiten Hannas mit ihrem Arbeitgeber und eine Mordanklage hatten die Verhältnisse allerdings wieder gerade gerückt.
Bei einer Flasche Single Malt, die Grete, mit dem fürsorglichen Hinweis auf die von Alkohol ausgehende Gesundheitsgefahr für verpurzelte Hirne, nahezu allein geleert hatte, erfuhr Jakob später den Grund für Gretes nächtliche Heimkehr. Sie hatte in der Wohnung eines ehemaligen Schülers und Hobbycannabisgärtners der mit Durchsuchungsbeschluß anrückenden Polizei die demente Oma vorgespielt: kreischend stand sie in der Wohnungstür und forderte, man solle den Weg in den Luftschutzkeller freigeben, sie riefe sonst den Blockwart. Die peinlich berührten Polizisten ergriffen die Flucht.
Da sie, vermutlich mit Zwangsjacke und Krankenwagen für Oma, wiederkommen würden, mußte die Cannabis-Plantage weichen. Grete klingelte die nachbarschaftliche Kundschaft zusammen und verteilte Zubehör und Technik über das ganze Mietshaus. Die meisten Pflanzen landeten in der Komposttonne eines neuerbauten Townhouses zwei Straßen weiter.
Der dankbare Gärtner versprach Grete für ihre Hilfe lebenslangen Nachschub auf Kosten des Hauses, was die Alte bis zum letzten Atemzug auskosten wollte. Jakob gab etwas acht, daß sie es nicht übertrieb. Während ihre Pflegetochter Hanna bis zur Gerichtsverhandlung durch die Welt reiste, hatte er sich angeboten, für Grete zu sorgen. Hanna erzählte es der Alten, die senkte ihre blauen Augen in Jakobs, kniff ihn in die Wange und sagte, ich hab Dich auch lieb.
Mit Schraubenzieher und Stablampe bewaffnet sah sie Jakob an. »Du mußt mich hochheben und leuchten.«
Jakob seufzte, hob das Fliegengewicht auf die Stoßstange und hielt sie in der Taille fest. Er sah auf den grauen Lockenkopf und hörte es professionell klappern, als sein Handy klingelte.
»Wenn Du jetzt rangehst, bin ich verloren.« Gretes Stimme klang hohl.
Jakob löste vorsichtig die Hand von der alten Hüfte und fingerte nach seinem Handy.
»Mann, hat das lange gedauert. Liegst Du im Koma?«
»Grüß Dich, Oskar. Ich bin in Brandenburg im Wald.«
»Wie romantisch.«
»Mit Grete.«
»Sucht Ihr einen neuen Standort für ihre Kifferplantage?«
»Ich soll Dich auch lieb grüßen. Warum rufst Du an?«
»Ich habe hier eine Leiche.«
»Was geht mich das an?«
»Sei nicht gleich beleidigt, nur, weil Du suspendiert bist.«
Jakob hatte außer der Gesundheit auch seinen Beruf eingebüßt, Beamtenrecht und Corpsgeist sich, bisher erfolgreich, gegen ihn verbündet. Er war suspendiert und stand vor Gericht. Eine Serienmörderin und seine große Liebe hatte er allerdings in diesem Seuchenjahr auch gefunden, als mit den Gliedern rappelnder, kopfkranker Geisterseher nicht schlecht.
Und es war ja nicht so, daß er nichts zu tun hatte. Montag bis Freitag entstaubte er seine Bücherregale, schlich sich zwischen Schulklassen durch Museen, besuchte die neuesten Berliner Baustellen, fuhr auf dem S-Bahn-Ring im Kreis und ging jeden zweiten Tag einkaufen. Am Wochenende, wenn auch Nicht-Suspendierte Zeit hatten, pflegte er rostige Freundschaften. Und abends, wenn ihn zielloser Tatendrang ansprang, verhinderte die Geisterrunde von Martinas Opfern naturtrübe Gedanken.
Die schienen sich bestens zu verstehen, er kam sich zwischenzeitlich in seiner eigenen Wohnung wie ein Zimmerwirt vor. Hübsche junge Frauen, die Platten auflegten und sich auf Sesseln und Sofa räkelten, als sei das ein Geisterzuhause. Jakob fand das unhöflich. Er hatte ihre Geschichte aufgeklärt und verstreute Körperteile aus einer Berliner Tiefkühltruhe in ländlich idyllische Gräber verfrachtet. Na gut, nicht alle in die passenden, was konnte er für hartherzige Eltern.
Vermutlich mußte er nur endlich wieder arbeiten, dann fände er zurück in die Realität oder neue Mordopfer vertrieben die alten. Letzte Woche hatte er mit seinen Geistern ernsthaft geredet, sie sollten zu ihren Angehörigen zurückkehren, mal bei Penta und Sohn in der Mark vorbeischauen, oder ihre vermutlich schlecht gelaunte Mörderin in der Zelle besuchen. Aber sie hatten ihn nur mitfühlend angesehen. Als könnten sie ihn nicht allein lassen in seinem arbeitslosen, nutzlosen Freizeitdasein.
Mitleid von toten Frauen, denen einzelne Körperteile fehlten, hervorragend. Die kaugummilangen Tage und geistergefüllten Nächte machten ihn zu einer jammernden Mimose. Gute Voraussetzungen für eine Umschulung zum Haremseunuchen, aber schlechte für den rauhbeinigen Alltag als Kriminaler auf Berliner Straßen. Den er so vermißte, daß es ihm das Zwerchfell zusammenkrempelte, wenn er nur daran dachte. Bekäme er die Chance zurückzukehren, er schwiege über endlose Überstunden, kaputte Mitmenschen und mißgünstige Kollegen.
»Mir geht es vorzüglich ohne Arbeit, Oskar.«
»Aber sicher, deshalb turnst Du auch mit Deiner alten Kifferschachtel durch die Pampa.«
Jakob schwieg.
»Sie liegt im Auslaufgebiet.«
»Armer Oskar.«
In Gegenden ohne Straßenschilder war sein Freund verloren. Das Hundeauslaufgebiet im Grunewald war zwar nicht Nord-Kanada, aber immerhin. Ein paar Hundert Hektar Wald, Wasser am einen Ende, die S-Bahn am anderen. Ganz zu schweigen von den vielen freilaufenden Hunden und ihren landschaftserfahrenen, selbstbewußten Begleitern. Oskar mußte sich fühlen wie auf dem Mond.
»Ich kann das nicht, hier sind überall Bäume.«
Oskar schlug genau den Ton an, bei dem er alles stehen und fallen ließ. Keine Frau konnte das. Jakob seufzte. »Hat Deine Franzosenkutsche ein Abschleppseil?«
»Warum?«
»Du holst uns hier ab, und ich sehe mir Deine Leiche an.«
»Du bist ein Schatz, Alter. Und wo seid Ihr?«
»Burg Rabenstein, Gretes Bulli hat die Steigung nicht geschafft.«
»Das finde ich nie.«
»Fahr bis Belzig. Du weißt schon, Autobahn, der Spargel …«
»Und wenn die Häuser aufhören?«
»Rufst Du mich an.«
»Was Du bloß an Gegend findest.«
»Komm her, dann erkläre ich es Dir.«
Er lag auf der Anhöhe, den Wald im Rücken. Seit er nicht mit zur Jagd gedurft hatte, war das sein Platz. Als die Erwachsenen aufbrachen, wollte er sie erstmals begleiten, hatte sich mit angelegten Ohren, Kopf und Rute gesentk, zwischen sie gestellt und gebettelt. Er war doch so gut wie erwachsen. Aber die Rüden knurrten, scheuchten den Halbstarken zurück zu seinen Geschwistern.
Sie waren mit fetter Beute zurückgekehrt. Ein Frischling, genug für alle. Aber er wartete schmollend abseits. Erst, als alle satt schliefen, war er zu den Resten gegangen, hatte Knochen abgenagt und geknackt. Sein Magen war voll, aber das Ziehen blieb.
Er schlief jetzt auch am Waldrand, den Blick auf das Rudel. Ging in den Wald, um sich zu lösen und der Witterung hinzugeben. Der Wald war klein, er konnte am anderen Ende die Sonne untergehen sehen. Glutrot und dick senkte sie sich in die warme Erde, in seine Brust, füllte ihn aus.
Dieses Mal gab er nach. Mit weit ausgreifenden Schritten lief er in das Rot, immer weiter, bis es verschwand, die Nacht sich senkte, der Mond stieg, die Sterne auf seinem Weg blinkten. Er spürte Sand unter den Pfoten, die kühler werdende Luft in seiner Brust, horchte auf das Wispern und Knispern der Nacht. Tau senkte sich in sein Fell, aber ihm war warm und wohl. Er lief und lief, trank aus Pfützen, ruhte aus unter Bäumen, und lief, bis die Sonne wieder stieg. Erst als sie steil über ihm stand, suchte er Schutz vor ihrer Hitze unter einer weit ausgreifenden Fichte, grub sich eine Mulde und