Auslaufgebiet. Lotte Bromberg
Keckern der Elstern, den Warnruf des Eichelhähers. Sein Herzschlag wurde ruhiger und er schlief ein.
Seine Schwester war zum Waldrand hinaufgelaufen, hatte die Witterung des Bruders aufgenommen, war durch den Wald, die Nase tief am Boden, seiner Spur gefolgt. Auf der anderen Seite des Waldes sah sie über die Ebene und hielt inne. Sah sich um, fiepte ratlos. Legte den Kopf in den Nacken und heulte.
Es antwortete ihr Rudel im Rücken, der ferne Bruder schwieg. Da drehte sie um. Durchmaß mit hüpfenden Zwischenschritten das Wäldchen, fand den früheren Schlafplatz ihres verlorenen Bruders, kratzte mit den Hinterpfoten etwas Sand in seine Mulde, löste sich darauf, lief den Hang hinab zu ihrem Rudel und vergaß ihn.
Die Sonne hatte sich vor ihm gesenkt, ein zweites, drittes Mal. Jetzt, am vierten Tag, hatte sie die Landschaft noch nicht in rotes Licht getaucht, noch blendete sie den auf sie zulaufenden jungen Rüden. Vor ihm lag ein breiter Fluß. Das Licht tanzte auf seinen trägen Wellen. Auf dem gegenüberliegenden Ufer bewegte sich etwas, das er nicht kannte. Er witterte fremde, schwere Gerüche, die der Wind herübertrug. Verwirrende Geräusche füllten seine großen, feinen Ohren. Seine Stirn zog sich zusammen.
Er blieb in Deckung, wartete. Mit der Dämmerung wurde es ruhiger am anderen Ufer. Nur ab und an bewegte sich ein großes Wesen langsam, stinkend und röhrend von einer Seite zur anderen. Er folgte mit dem Kopf seinen zwei großen Augen, die über den Uferweg tanzten, dem kleinen Licht, das über den Fluß streifte und schließlich den zwei roten Augen an seinem Ende.
Als die Dunkelheit überall war, schlich er sich zum Fluß und trank. In ihn grub sich nagende Leere ein. Sie sprach mit dem Ziehen. Er sicherte nach allen Seiten. Außer ein paar Fledermäusen war alles leer. Er stieg in den Fluß, setzte vorsichtig Pfote für Pfote und wurde mitgerissen. Die Strömung war stark, weit zog sie ihn hinaus. Er bewegte die Beine im Wasser. Kraftvoll schwamm er durch den Strom. Nur die graue Rute und sein schmaler Kopf waren zu sehen, dicht angelegt die Ohren. Er fühlte seine Kraft, die das Wasser durchteilte. Sah Bäume am Ufer vorüberziehen, Sterne über sich.
Die Fledermäuse begleiteten ihn, stürzten auf den Schwimmenden nieder, bogen kurz vor ihm ab in den Nachthimmel. Das Wasser war kalt, unter ihm wirbelte es. Seine Beine wurden schwer, seine Züge langsamer. Der Fluß war breit und stärker als der unerfahrene Wolf auf dem Weg in ein neues Leben. Seine Rute sog sich voll Wasser, wehrlos schleuderte sie hin und her. In seine Ohren lief der Strom, er fror trotz der Anstrengung. Sein Atem ging keuchend. Immer schneller wirbelte das Ufer vorbei, immer härter attackieren ihn die Fledermäuse.
Endlich spürte er Sand. Wirbelnden, weichen Sand. Noch ein, zwei Züge mit den lahmen Beinen, dann stand er, schwankend. Stieg auf zum Ufer, zog sich mit den zitternden Vorderbeinen die Böschung empor. Das Wasser lief in Strömen an ihm hinab. Er schüttelte sich, der Nachthimmel zerstob vor Wasserfunken. Er trabte hoch auf einen grasbewachsenen Deich und sicherte ringsum. Die Fledermäuse hatten ihn verlassen. Ein Fuchs war vorbeigekommen am Abend, unter sich hörte er Nager in ihren Bauen trappeln, in der Ferne einen Kauz. Er drehte sich um und sah zurück auf den Strom. Hob den Kopf, immer höher, legte ihn in den Nacken und heulte. Er bekam keine Antwort.
IV
Als ein Kollege ihm in der Keithstraße sagte, wo er die Angehörigen der Frauenleiche aus dem Grunewald fände, hatte Oskar gehofft, er träfe auf ganz normale Berliner, die zufällig in der Platte im Osten wohnten. Man will sich ja in seinen Vorurteilen nicht einrichten. Außerdem gab es wirklich nette Ostler, die in Prenzlberg das System zu unterbuddeln versucht hatten, allerdings heute in Charlottenburg wohnten, weil Stuttgarter ihre Wohnungen aufgekauft und von den Überwachungskabeln der Stasi befreit hatten.
All seine guten Vorsätze lösten sich schon im Hausflur auf. Schichten frischer Farbe hatten diesen unnachahmlichen DDR-Duft nicht beseitigen können. Piefigkeit, Braunkohleruß und viel Süßliches klebten Oskar auf den Bronchien.
Jetzt saß er auf einer Lichtenberger Couch im siebten Stock des Arbeiter-und-Bauern-Paradieses für verdiente Kleinkader, eingekeilt zwischen plüschigen Kissen und sah in das starre Gesicht von Walter Gerber, dessen ältestes Kind Iris den Grunewalder Ratten Teile ihres Körpers geopfert hatte.
»Mein Mann kommt nicht so zurecht in der neuen Zeit. Sie müssen schon entschuldigen«, sagte die Mutter. Seit einer halben Stunde drehte sie jetzt ihr rechtes Handgelenk zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken.
»Was heißt das?«, fragte Oskar. Er sah sich im Wohnzimmer um. Gerüschte Gardinen über einer mit Engelchen vollgestellten Fensterbank. Porzellan, buntes Glas, Hölzernes aus dem Erzgebirge. An der Wand Dürers Karnickel, der Eiffelturm und ein kleiner Honecker. Auf einer dunkel glänzenden Kommode Photos aufgereiht wie Pokale, Iris und zwei Jungs. Das Erreichte im gerahmten Rechteck. Schultütenpräsentation eins, zwei, drei. Jugendweihe. Iris mit leichten X-Beinen in weißen Kniestrümpfen, ihre freche Stupsnase ragte noch vollständig in den Himmel.
Dann als Erwachsene. Ein Bruder in knappem Anzug inmitten businessgekleideter Klone, der andere mit Kindern am Strand. Bunte Schippen und Förmchen ringsum, eine übergewichige Frau mit Sonnencreme auf dem Nasenrücken an seiner Seite. Iris vor Skyline, mit angeknipstem Strahlen, ohne Kniestrümpfe.
Schließlich die Drei auf der elterlichen Couch. Alle in Jeans, Iris in der Mitte, lässig die Hände auf den Beinen ihrer Brüder, die sie von der Seite ansahen.
»Man hat mich aussortiert, das heißt das.« Die Lippen des Vaters bewegten sich kaum.
Oskar sah zu Iris’ Bruder, der unglücklich auf dem Sessel seiner Kindheit hing. War sicherlich damals Grund zur Freude gewesen, eine Couchgarnitur zugeteilt zu bekommen.
»Das kannst Du so nicht sagen, Vati.« Seine Frau sah ihn an. »Was hätten sie denn tun sollen, den Staatsrat gab es ja nun nicht mehr.«
»Staatsrat?« Oskars Stimme kiekste.
Die Mutter erlöste das Handgelenk und täschelte ihrem Mann den Oberschenkel. »Verwaltungsaufgaben hat er dort erfüllt«, sagte sie.
»Schließer war er«, sagte der Sohn.
Er hatte die schmalen Lippen seines Vaters, war aber schmächtiger. Kurze, breite, gepflegte Finger, die flach auf seinen Oberschenkeln lagen. Oskar vermutete feuchte Kälte, die von den Handflächen in die Hose drang. Er trug einen hellgrauen Anzug, immer noch zu eng, ein Seidenanteil ließ ihn knittern. Der Schlips war zu bunt, das Hemd hatte einen Stich Rosa.
»Diese Respektlosigkeit hätte es früher nicht gegeben.« Der Vater bleckte die Zähne.
Sein Sohn sah unbeteiligt aus dem Fenster. Am Rand seiner anthrazitfarbenen Socke war ein Fußball aufgedruckt. Westverseucht, dachte Oskar, auf sozialistischer Ostcouch, die Welt war früher schlichter. »Der Staatsrat ist aber lange beerdigt. Was haben Sie denn nach Mauerfall gemacht?«, fragte er.
Der Mann schwieg.
»Pförtner werden ja auch anderswo gebraucht.«
Der Mann schnaubte.
»Oder waren Sie IM?«
»Das könnte Euch so passen.«
Ein Neuköllner Arbeiterkind als Klassenfeind, Oskar parkte seinen Blick vorsichtshalber Richtung Kommode. An der Wand noch mehr Photos. Iris im Kostüm, etwas jünger als vor der Skyline, schmal und langbeinig, die Schultern hochgezogen. Sie lächelte gequält in die Kamera, im Hintergrund der Palast der Republik.
»Eine sehr schöne Stelle im Innenministerium hat man ihm angeboten«, sagte die Frau.
»War ihm nicht genehm«, sagte der Sohn, nahm ein Stofftaschentuch aus der seidigen Hose und wischte sich die Handflächen.
»Sehe ich aus, als liefe ich einfach so über?«
»Hast lieber Mutti schuften lassen und Arbeitslosenhilfe kassiert. Die Dir dann auch noch gekürzt wurde, als Du Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen abgelehnt hast.« Das Taschentuch verschwand zerknüllt in den Tiefen der Hosentasche.
»Computerkurs und im Archiv Akten entstauben. Wer bin ich denn?«