Auslaufgebiet. Lotte Bromberg
antwortete sie. »Nach Mauerfall wollte man mich aber nicht mehr. Es hieß, das waren die falschen Methoden. Alle zugleich auf den Pott, alle zusammen schlafen legen. Dabei hat das bißchen Disziplin nicht geschadet. Aber«, sie schlug die Hände zusammen, als mache sie sich an den nächsten Kuchenteig, »das muß man als Chance sehen. Habe ich mich eben verändert.«
»Kassiererin.« Der Mann schnaubte wieder.
»Ja und? Ist das vielleicht kein anständiger Beruf? Kommt man wenigstens unter Leute.«
»Denen für Unnützes Geld aus der Tasche gezogen wird.«
»Der böse Kapitalismus. Nicht schon wieder«, sagte der Sohn.
»Und unserem Kleinen konnte ich so helfen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Habe bei meinem Chef ein gutes Wort für ihn eingelegt.« Oskar sah fragend zum Sohn, der den Kopf schüttelte, er war nicht der Kleine.
»Eine Schande für die Arbeiterklasse. So weit sind wir schon, um die Gunst des Chefs werben.« Der Vater verschränkte die Arme.
Oskar wurde das alles zu familiär. »Und Ihre Tochter?«
»Die hat es geschafft«, sagte die Mutter. »Abitur gemacht an der Polytechnischen Oberschule und dann an der HU studiert. Tolle Abschlüsse hingelegt. Betriebswirtschaft, war es nicht so?« Sie sah zum Sohn, der nickte. »Und dann hat sie sich um ein Aufbaustudium beworben, in Amerika.«
»Ausgerechnet«, sagte der Vater hinter seinem Armpanzer.
»Ja und? Sie haben sie genommen und uns hat es keinen Pfennig gekostet. Ein Stipendium hat sie bekommen für eine MBA. Heißt das so?« Der Sohn nickte. »Ihr späterer Chef hat das finanziert. Er fand es gut, daß sie aus dem Osten kam, sich hochgearbeitet hat. Wissen Sie, für die Amerikaner sind wir Exoten. Die denken, wir hätten alle in Käfigen gehaust und kommunistische Lieder gesungen.« Sie kicherte.
»Und nach dem Studium?«
»Erst mußte sie überall rumreisen. Hat nicht viel verdient, sollte alles kennenlernen. Aber das ist lange vorbei. Inzwischen betreut sie einzelne Projekte, hat völlig freie Hand. Und verdient richtig viel Geld.«
»Einen Mann hat sie nicht«, sagte der Vater.
»Was sollte sie mit dem auch anfangen bei der vielen Arbeit. Aber später will sie schon, auch Kinder, sie ist ja erst dreiunddreißig.« Die Frau strahlte stolz.
»Wissen Sie etwas über Freunde Ihrer Tochter? Menschen, die uns mehr über ihr jetziges Leben sagen können?«, fragte Oskar, bevor der Mutter bewußt wurde, daß ihre Tochter immer dreiunddreißig bleiben würde.
»Eine Klassenkameradin hatte noch Kontakt zu ihr«, sagte der Bruder. »Aber ich glaube nicht, daß die Ihnen weiterhelfen kann. Ist bei der BVG, fährt Bus, glaube ich, hat Mann, zwei Kinder, ein Häuschen hinter Oranienburg. Das waren nur Erinnerungen, nichts, was sie jetzt noch verband. Meine Schwester hatte kein Privatleben. Die hatte nur Zeit für ihren Bonzen.«
Die schmalen Lippen waren wirklich unvorteilhaft. Jetzt mahlte auch noch Juniors Kiefer.
»Und wissen Sie etwas über Feinde, Neider?«, fragte Oskar.
»Sie war nicht gerade eine Schmusekatze.«
Die Mutter schluchzte, der Traum von Zukunft war zuende.
»Ihr Auftreten hat vielen nicht gepasst. Sie ließ gern mal den Kontostand raushängen.«
»Als ob die Brüder es nicht auch zu etwas gebracht hätten«, sagte der Vater. »Mein Ältester hier ist Banker, der Kleine leitet ein Lebensmittelunternehmen.«
Alles Kapitalisten, dachte Oskar, armes Schwein. Aber so bezahlt wenigstens jemand Deine stalinistischen Flausen. »Und wissen Sie, an welchem Projekt sie gerade arbeitete?«
»Umweltschutz«, sagte die Mutter und schneuzte sich. »Das kommt noch hinzu, ihr Arbeitgeber war eine soziale Stiftung.«
Der Vater schnaubte wieder. »Ist ja wohl das mindeste, daß die ihre erbeuteten Gewinne in das Gemeinwohl zurückführen.«
Aber sicher, dachte Oskar, wie Dein Staatsrat.
»An der FU unten in Dahlem war sie. Dadurch hatte sie jetzt viel in Berlin zu tun, wir konnten uns öfter sehen.«
»Wieso weiß ich davon nichts?«, fragte der Vater.
Jetzt heulte die Mutter richtig. »Du wärst doch nie damit einverstanden gewesen, daß sie in Westberlin arbeitet. Du wolltest ja nicht mal in ihre Wohnung, dabei war die im Osten.«
Oskar wurde das alles zu eng. Da lobte er sich seine Neuköllner Kindheit. Kohleofen, Kohlrouladen, klare Ansagen und Dankbarkeit gegenüber den amerikanischen Beschützern. Jakob hätte das alles hier viel besser gekonnt, der weckte in jedem gescheiterten Arschloch den flauschig-weichen Kern. Wenn Oskar an Staatsratspapas Kern dachte, sah er nur ausgekotzten Karamellpudding vor sich. Die letzte Frage und dann nüscht wie an die Luft. »Haben Sie eine Idee, wer Ihrer Tochter das angetan haben könnte?«
»Irgendsoein Perverser aus dem Grunewald«, rief der Vater. »Joggen in knatschengen Klamotten. Da muß sie sich nicht wundern. Wußte nicht, wo sie hingehört.«
Warum gerade hier? Eine abseitige Lichtung im Wald. Jakob überstieg das Polizeiabsperrband, blieb in der Mitte des Areals stehen und drehte sich langsam im Kreis. Er übertrug, was er auf den Tatortphotos gesehen hatte.
Das Bild einer Schlacht. Verwirbelte Laubhaufen, zerwühlte Erde. In der Mitte die tote Frau, auf dem Rücken liegend. Die Arme waren ausgebreitet, ein Unterarm abgetrennt. Keine Hände. Der Kopf seitwärts, blutiges Haar in der Stirn, Teile der Nase fehlten. Blutverschmiert der offene Hals, behängt mit einer breiten goldenen Kette.
Reste eines Pullovers. Ein hochgeschobener schwarzer Minirock, Löcher in Ober- und Unterschenkeln. Eine Schleifspur führte zu dem Unterarm abseits. Die Hand war mit teuer blinkenden Ringen geschmückt, sechs an drei verbliebenen Fingern. Grell lackierte Fingernägel. Neben ihrem Bauch Pumps, leuchtend rot, mit gelber Sohle, keine Waldspritzer auf der Farbe, keine Erde am Absatz.
Wie auf einer Bühne. Wäre die Leiche aufgebahrt gewesen, er hätte an ein Bestattungsritual gedacht, eine Toteninszenierung. Gab es nicht bei Indianern die Vorstellung, Greifvögel holten die Seele ab, indem sie sie verspeisten? Vielleicht war sie auch eine Opfergabe gewesen. Ein Kniefall vor Berliner Wildschweinen und Ratten? Jakob, Du staubst zu viele Bücher ab.
Er war auf Oskars Fall gesprungen wie ein sabbernder Jagdhund. Hatte auf die Tatortphotos gestiert und war in die Leine gestiegen, wann es endlich losginge. Oskar hatte ihn besorgt angesehen. Fall mir nicht wieder hin. Keine Sorge, wenn sein Gehirn jetzt schlapp machte, reichte er unverzüglich die Scheidung ein. Sicher, das Ganze war nur ein Freundschaftsdienst, inoffiziell, versteckt, illegal. Na und? Endlich wieder Arbeit, Frischluft in jeder Windung. Durchgepustete graue Zellen, flirrende Nervenbahnen, er fühlte sich hervorragend. Etwas nervös vielleicht, geschlafen hatte er nach seiner Recherche wenig, aber so ging das wohl von der Couch hopsenden Frührentnern.
Den gestrigen Abend hatten sein aufgekratzes Hirn und er recherchierend in der Unibibliothek verbracht. Vor über 200 Jahren war der Berliner auf den Hund gekommen, 1850 gab es schon zehntausend beste Freunde des Menschen in der Stadt. Wenig später versuchte die Obrigkeit, durch Steuern, Verordnungen und Verbote vor allem die Armen von ihrer Liebe zum flohtragenden Mitgeschöpf abzubringen. Man erließ einen Maulkorbzwang, an den sich selbstverständlich niemand hielt. Alle Maßnahmen waren vergebens, selbst im hungerreichen, verfrorenen Blockadewinter 1948 spannte sich die Luftbrücke über einer ungebremst wachsenden Hundezahl im Westteil der Stadt.
Vor knapp hundert Jahren richtete man aus Verzweiflung oder Verantwortungsgefühl Hundeauslaufgebiete ein. Zwölf an der Zahl auf 1250 Hektar bewaldetem Stadtgebiet. Einzigartig in Europa, so las er. Jakob vermutete, Brasilien, Neuseeland oder Saudi-Arabien hätten wohl kaum größere. Mal wieder ein Berliner Weltrekord.
Das größte Auslaufgebiet der Stadt war zugleich das beliebteste. Gelegen im Grunewald, geschmückt mit Krummer Lanke, Schlachten- und Grunewaldsee. Am Ufer des letzteren