Katzmann und die Dämonen des Krieges. Uwe Schimunek

Katzmann und die Dämonen des Krieges - Uwe Schimunek


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- Inhaber geschrieben. Leise öffnete Helmut Cramer die Tür und betrat das Vorzimmer. Alle Wände waren von Regalen verdeckt, es sah fast aus wie im Lager, nur dass die Unmengen von Aktenordnern nicht frisch aus der Fabrik kamen, sondern vergilbte Rückseiten hatten, als stünden sie schon hier, seit der Kaiser seine guten Zeiten gehabt hatte. Cramer las die Aufschriften: 1895, 1896, 1897… Ja, da war Wilhelm II. noch frisch gewesen.

      In der Wand zu seiner Linken führte eine Holztür mit barocken Verzierungen offenbar in Preßburgs Bureau. Aber dort würde Helmut Cramer gar nicht hineingehen müssen, sicher stand die Handkasse in dem Schreibtisch neben der Tür. Seine Blicke wanderten über den Schreibtisch: Eine Reihe Bücher, genau ausgerichtet, auf der Schreibmaschine daneben leuchtete der Schriftzug Mignon, als käme das Gerät frisch vom Werk. Ein Stapel Papiere, akkurat auf Kante sortiert, lag vor einem schwarzen Fernsprecher. Kein Staubkorn … Hier arbeitete eine sorgfältige Tippse, sicher kein Problem, die Kasse in einer der Schubladen zu finden.

      Er ging leise auf den Schreibtisch zu, weiter in die Mitte des Raumes. Hinter dem Möbelstück, gleich neben der Tür, wurden auf dem Fußboden schmale dunkelgraue Kästchen sichtbar. Nein, keine Kästchen … Fußsohlen. Schuhe. Socken. Hosenbeine. Da lag einer auf den Dielen.

      Helmut Cramer bemerkte, dass er stehengeblieben war. Hier hatte doch keiner herumzuliegen - und schon gar nicht so ruhig! Im Vorzimmer herrschte absolute Stille, das Fenster zum Hof war verschlossen, wie es sich im Winter gehörte. Er hörte niemanden atmen, bis er bemerkte, dass er selbst schon seit Sekunden die Luft angehalten hatte, und seine Nase wieder in Betrieb setzte. Der Geruch von trockenem Papier … Wenn der Regungslose dort tot war, dann noch nicht sehr lange.

      Leise ging Helmut Cramer auf den Körper zu, einen Schritt, noch einen. Es bestand kein Zweifel, der Mann würde nicht mehr aufstehen. Der Kopf lag in einer Blutlache, und die stammte von einem Loch in der Stirn, klein wie ein Pfennigstück. Fast sah es aus, als wäre dem Mann ein drittes, ein schwarzes Auge gewachsen. Ein Auge, das düster über den beiden echten ruhte, die weit aufgerissen an die Decke zu starren schienen.

      Helmut Cramer wandte seinen Blick ab. Zwischen der Leiche und dem Schreibtisch stand ein Diplomatenkoffer in der Blutlache. Am Rand des Koffers hatte sich ein Rinnsal gebildet, langsam lief das Blut unter den Schreibtisch. Es glitzerte im Mittagslicht, das durch das Fenster fiel. Der Mann lag bestimmt erst seit ein paar Minuten hier. Einen Schuss hatte Helmut nicht gehört. Der Mord war wohl geschehen, unmittelbar bevor er die Lagerhalle betreten hatte. Seither hatte er keinen Menschen gesehen oder gehört. Der Mörder konnte kurz zuvor geflohen sein - oder er war ganz in der Nähe …

      In Preßburgs Bureau hinter der Tür klirrte es. Als wäre ein Glas von einem Tisch gefallen oder aus einem Schrank. Helmut Cramer ergriff den Koffer. Stürzte zur Tür. Und rannte los.

      Das war wieder mal typisch! Natürlich glaubte Heinz Eggebrecht nicht an etwaige besondere Schicksalsschläge, die durch das Zusammentreffen des Dreizehnten eines Monats mit einem Freitag herrührten. Aber es führte kein Weg an der Tatsache vorbei, dass soeben eine Kraftdroschke an ihm vorübergefahren war und ihn vollgespritzt hatte. Mit dem Wasser aus einer der wenigen Pfützen, die von dem Schauer am Vormittag übrig geblieben war.

      Nun stand er vorm Leipziger Hauptbahnhof und schaute in Richtung der Grünfläche, die in diesem milden Februar eher eine Grauf läche war. Die Farbe ähnelte der, die sein rechtes Hosenbein und der Mantel mit ihren Schlammflecken angenommen hatten.

      Der Mantel war freilich vorher nicht viel ansehnlicher gewesen, darüber machte Heinz Eggebrecht sich keine Illusionen. Den Lodenmantel hatte er von seinem Onkel geerbt, der zwar etwas kleiner, jedoch deutlich dicker als er selbst gewesen war. Aber man konnte doch nicht für jedes Wetter einen Überzieher kaufen, und im Wintermantel würde er schwitzen, im Jackett frieren. Fünf Grad im Februar - das Wetter spielte verrückt. Oder wollte Petrus ein Zeichen setzen, dass es aufwärts ging? Mit Deutschland, mit Leipzig?

      Dass es mit ihm persönlich aufwärts ging, konnte Heinz Eggebrecht noch nicht behaupten. Er stand hier und wartete auf einen gewissen Konrad Katzmann, die Edelfeder aus Dresden. Und er, der kleine Lehrling, der Redaktionsstift, der Knecht für alles, sollte den feinen Herrn Katzmann in Leipzig begleiten, bei seinen … Ja, wobei eigentlich?

      Da hatte der Spund natürlich keine Fragen zu stellen. Das wäre prinzipiell kein Problem, wäre Heinz Eggebrecht nicht schon zu lange der Kleine gewesen.

      Und er stand schon viel zu lange hier vor dem Bahnhof. Um zwei wollte Konrad Katzmann mit seinem Motorrad ankommen, jetzt zeigte die Uhr am Eingang der Osthalle schon zehn vor halb drei. Warum konnte Katzmann nicht wie jeder normale Mensch mit der Eisenbahn aus Dresden anreisen? Nein, der Herr Reporter musste sein eigenes Motorgefährt mit an die Pleiße bringen. Als ob es hier keine Straßenbahn gäbe und keine Kraftdroschken. Kraftdroschken, die armen Lehrlingen die Anziehsachen beschmutzten, während sie auf Schreiberlinge aus Dresden warteten.

      Von links, von der Wintergartenstraße, brauste das nächste Motorgefährt heran. Heinz Eggebrecht trat einen Schritt von der Bordsteinkante zurück. Noch war ein Hosenbein trocken, und das sollte auch so bleiben.

      Der Lärm kam von einem Lastkraftwagen, in das Motorengebrüll mischte sich ein dumpfes Geräusch, das klang, als rollten Felsbrocken den Berg herunter. Der Wagen fuhr an Heinz Eggebrecht vorbei, auf der Plane flatterte der Schriftzug der Brauerei Riebeck, offenbar wurden hier Bierfässer ausgefahren. Er bekam Appetit auf ein Pils, stellte sich vor, wie er ein frisches Bier von einem Kellner gebracht bekam, eiskalt, mit einer schneeweißen Krone. Er malte sich aus, wie er den Bempel ansetzte, wie das Getränk die Kehle herunterfloss, sich ein Gefühl von Frühling vom Hals ausgehend im ganzen Körper ausbreitete …

      «He! Sind Sie Heinz Eggebrecht?»

      Die Stimme drang durch das Geknatter eines Motorradgespannes. Das stand direkt vor Heinz Eggebrecht am Straßenrand. Auf dem Fahrersitz saß ein Mann mit einer enganliegenden Ledermütze unter einem grauen Stahlhelm und einer Schutzbrille, die ihn wie ein Insekt aussehen ließ - vielleicht wie einen zu groß geratenen Moskito, der sich in der Klimazone geirrt hatte.

      «Hallo! Hören Sie mich?»

      «Äh … Ja …»

      «Heinz Eggebrecht?»

      «Heinz Eggebrecht. Konrad Katzmann?»

      «Sie haben es nicht so mit ganzen Sätzen, was? Aber ja, ich bin Konrad Katzmann.»

      Heinz Eggebrecht brauchte ein paar Augenblicke, um die Worte des Moskitos zu verarbeiten. Ihm fiel keine Entgegnung ein. Sicher würden ihm heute Nacht beim Einschlafen tausend originelle Sprüche in den Sinn kommen - doch dann gäbe es niemanden mehr, der sie hören konnte, nur noch den Ärger, das nicht gleich gesagt zu haben. Aber was …

      «Sie dürfen ruhig ‹Guten Tag› sagen, gerne auch ohne Verb. Guten Tag!»

      Er war zu spät, der Moskito hatte den Einfall gehabt, den verbalen Hieb gesetzt. Heinz Eggebrecht kam sich vor wie ein Depp. Er musste endlich etwas sagen …

      «Sie können aber auch stumm bleiben.» Der Moskito hob die Arme, zog den rechten Handschuh von den Fingern und streckte Heinz Eggebrecht die Hand entgegen.

      Den Händedruck konnte Heinz Eggebrecht schwer einordnen, nicht zu kräftig, aber auch keinesfalls mädchenhaft. Er selbst widerstand dem Impuls, seine Hände zum Schraubstock werden zu lassen. Die erste Runde ging wohl an den Moskito.

      Er sagte: «Willkommen in Leipzig.»

      «He, Sie können ja doch sprechen. Da bin ich aber beruhigt.» Der Moskito grinste, zog seine Hand zurück und beugte sich in den Seitenwagen - so tief, als wolle er in dem Gefährt verschwinden. Heinz Eggebrecht konnte nur noch den Rücken sehen. Und den Rand des Helmes, der aus diesem Blickwinkel an ein Küchenutensil erinnerte, vielleicht einen alten Wassertopf oder einen Blechnapf.

      Der Moskito im Blechnapf tauchte wieder aus den Tiefen des Seitenwagen-Fußraums auf und hatte einen zweiten Helm in der Hand. Der sah um einiges älter aus als der auf dem Moskitokopf.

      «Nun setzen Sie den Helm schon auf! Wir wollen losfahren.»

      Liesbeth


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