Opak. Matthias Falke
letzter Wille …
Ich attestiere mir hiermit selbst, dass ich bei geistiger Gesundheit und unbedingt zurechnungsfähig bin. Mein körperlicher Zustand ist zerrüttet und in wenigen Stunden wird eine gnädige Dosis des Opiats, das seit Langem mein täglicher Begleiter ist, meiner physischen Existenz ein Ende setzen.
Es ist ein Jahr her, seit die medizinische Automatik an Bord der Leibniz anhand meiner Blutwerte die Diagnose stellte, und damals hätte ich nicht gedacht, dass mir nicht nur von der Zeitspanne her, sondern auch was die Erlebnisdichte angeht, noch solche Fülle an Leben, ja die eigentliche Erfüllung meiner Existenz bevorstünde. Es gelang mir, die Erkrankung geheim zu halten, indem ich sämtliche Meldungen der Software unterdrückte. Ich begab mich auf den Explorer Dorset, um das Mutterschiff und sein dichtes Überwachungsnetz verlassen zu können. Kaum habe ich damals geahnt, welcher geistigen Intensität ich mich dadurch noch einmal aufschloss und wie der Tod mich so der letzten Sinngebung meines Lebens entgegenschickte. Erst allmählich, während vieler Wochen der größtenteils einsamen Meditation, begriff ich die Bedeutung des Phänomens, dessen Erkundung unsere Mission galt. Obwohl ein weiteres Rendezvous kurz bevorsteht, welches ich nicht mehr erleben werde, zweifle ich nicht daran, dass diese zweite Observierung in wissenschaftlicher Hinsicht genauso ergebnislos verlaufen wird wie die hinter uns liegende. Umgekehrt war die subjektive Erfahrung der Begegnung mit dem sogenannten Opak das zentrale Erlebnis meiner 126 irdischen Jahre.
Ihnen, Commander, der Sie vermutlich in einigen Stunden geweckt werden – es ist mir nicht gelungen, die Automatik in diesem Punkt toleranter zu gestalten –, habe ich bei unserem letzten Gespräch zu erläutern versucht, dass ich das Opak für ein nichttranszendentes und absolut nicht sinnhaltiges Phänomen ansehe. Vielleicht habe ich mich damals zu negativ ausgedrückt und meine Gedanken, die sich seinerzeit noch nicht völlig gerundet hatten, skeptischer formuliert, als ich sie heute auffasse. Das fragliche Objekt stellt sich mir inzwischen in einem völlig anderen Lichte dar. Es ist unbegreiflich, unerklärlich, unfassbar. Aber darin unterscheidet es sich nicht von Ihnen und mir, von allen anderen Objekten im Universum bis zum letzten Staubkorn, das auf einer exzentrischen und gegenläufigen Bahn den Saturn umrundet, ja: nicht vom Universum selbst, dessen Gestaltung und Erscheinungsfülle wir im Einzelnen nachvollziehen und beschreiben mögen, dessen Existenz aber für alle Zeiten die begrenzten Kapazitäten des menschlichen Geistes überschreiten wird. Alles Seiende ist unbegreiflich; aber auch das absolut Unbegreifliche, mit dem wir es hier meiner alternden Intuition nach zu tun hatten, ist ein Sendbote des Absoluten. Sie, lieber und geschätzter Kommandant, haben Lohengrin zitiert. Auch das Opak war ein solch Ritter, der unsere Welt durchquert, ohne auf sie einwirken zu können, Manifestation seiner Fremdheit und monumentaler Spiegel unseres Nicht-begreifen-Könnens. Auch das absolut Unfassliche ist ein Absolutum, vielleicht das Absolutum überhaupt, das wir noch in Begriffe fassen können, wenn es auch jenseits unseres Verstehens angesiedelt ist. Ein grober Geist wie Gus zerbrach an dieser Mauer an Unbegreiflichkeit, für einen von jeher skeptischen Intellekt wie den Ihres alten Kameraden bedeutete die Begegnung mit diesem Monstrum des Schweigens, obwohl ich an Erkenntnis um keinen Deut mehr erfasste als unser unseliger Bordingenieur, eine Offenbarung. Ich hatte mich als junger, zu Spekulationen neigender Mensch damit abgefunden, dass wir nichts vollkommen verstehen können. Jetzt habe ich erfahren, dass es etwas gibt, dem gegenüber unser Nichtverstehen vollkommen ist. In unserem Gespräch habe ich leichtfertig einige Hypothesen entworfen, was das Opak noch alles sein könnte, mit welchen Metaphern wir es noch umschreiben könnten. Ich endige mein Leben und gehe ins Nirwana ein, das kein Sein ist und kein Nichts. Diese Aufzeichnungen beschließe ich mit einer weiteren, um nichts deutlicheren Spekulation. Sie steht klar vor meinem schmerzenden Geist – was nichts beweist – und erscheint mir plausibel wie ein Eiskristall am Morgen nach dem ersten Frost – was ebenfalls nur von subjektiver Bedeutung ist. Das Opak ist eine Welt, hatte ich vermutet; jetzt kann ich sagen: Es ist unser eigenes Universum, dessen göttliche Unbegreiflichkeit zu einer unstofflichen Blase geronnen ist; es ist unser Kosmos noch einmal, der sich selbst in gespanntem Schweigen durchquert, um die Rätsel seines wunderbaren Seins in ihrer Fülle zu kontemplieren.
Leben Sie alle wohl.
Ich blieb lange sitzen und spann die Gedanken des Alten weiter, unbewusst und dahintreibend, etwa so, wie man eine Melodie weitersummt, die man irgendwo aufgeschnappt hat. An sich ist es buchstäblich nichts, versuchte ich Silesios Exegese des Opak fortzusetzen. Ein monströses pulsierendes Nichts. Es ist kein böses, kein verschlingendes, kein handelndes Nichts. Unsere Sonden und Radiowellen haben es durchquert, wir haben es an der Hand gehalten. Und doch begegnete jeder in ihm sich selbst, jedem wurde über die Art und Weise, wie er an das Phänomen heranging und sich mit ihm auseinandersetzte, sein eigenes Ich offenbart. Gus’ aggressives Desinteresse setzte seinen zerstörerischen Grundimpuls frei, Groenewold schrumpfte fast ganz zu schlichter kreatürlicher Furcht zusammen. Silesio erprobte seine philosophische Spekulationsfreude und seinen Willen zur Apokalypse, die in dem unendlich facettierten Objekt ihr definitives Katalyt fanden. Theresa und ich brachten unser wissenschaftliches Instrumentarium zum Einsatz und scheiterten, wie billig, an der nackten, unprovozierbaren Positivität der Erscheinung. Indem es sich nicht zeigte und bis zuletzt unsichtbar, ein Nichtphänomen blieb, zeigte es jedem sein Wesen. Wir müssen dem Unerklärlichen begegnen, um uns selbst erklären zu können.
Das Testament enthielt noch ein kurzes Postskriptum, mit schwerfälligen Zügen offenbar schon unter der Wirkung der lösenden Droge abgefasst.
Übrigens habe ich die Aufzeichnungen der Katastrophe noch mehrmals durchgehört und so weit entstört, dass ich Gus’ Gebrüll verstehen konnte. Sein letzter Satz lautete offenbar: »Lieber eine Kugel in der Brust als einen blauen Stein in der Hand.« Ich vermute, dass es überflüssig ist, dich darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem Aphorismus um ein literarisches Zitat handelt. Anscheinend zog er den Tod einem Leben im Angesicht des handgreiflichen Mysteriums vor. Man könnte daraus auch schließen, dass er den Laser selbst auf sich gerichtet hat – und dass sein Tod kein Unfall, sondern Selbstmord war. S.
Ich machte mich auf den Weg, um Theresa zu wecken. Meine fröstelnden Gedanken liefen neben mir her. Ich fand diese Absurdität des Schicksals, das unter Milliarden von kryptischen Sätzen, die genauso wenig Sinn ergeben hätten, ausgerechnet dieses fantastische Zitat ausgewählt und unserem Bordingenieur in den Mund gelegt hatte, grotesk und ich zwang mich, nicht darüber nachzudenken, was unser Techniker uns mit dieser bedeutungslosen Sentenz hatte sagen wollen.
Theresa stieg aus der Koje. Während sie den elektronikgespickten Anzug abstreifte und in den Wäscheschacht knüllte, erzählte ich ihr, was geschehen war. Ich stellte Silesios Tod friedlich und versöhnlich dar. Wir schlossen den Leichnam in einen dieser unangenehmen schwarzen Zinksäcke ein und brachten ihn in den Seitentrakt des Drohnendecks, der von den alles bedenkenden Konstrukteuren der Dorset exakt diesem Zweck vorbehalten war. Nachdem wir die kleine Kammer verriegelt und ihren Inhalt auf die Temperatur des Weltraumes heruntergekühlt hatten, schlug Theresa vor, dass wir uns erst einmal etwas anziehen sollten.
»Rückholsequenz einleiten!«
Aus purer Lust an der Tautologie betätigte ich noch den manuellen Schalter. Wir hatten geduscht und uns angekleidet und nach einem wortkargen Frühstück beschlossen, auch Groenewold wecken zu lassen. Das Rendezvous stand bevor, und da wir nur noch zu dritt waren, würde es entsprechend schwieriger werden, die Dorset auf Kurs zu bringen und das wissenschaftliche Equipment für eine neuerliche Observierung vorzubereiten.
»Rückholsequenz kann nicht eingeleitet werden«, nörgelte die kastrierte Stimme. Am enervierendsten war die unmodulierte, sachliche Anmaßung, mit der sich die Automatik immer wieder den harmlosesten Anweisungen widersetzte.
»Warum nicht?«
»Lebenserhaltende Systeme inaktiv«, schnarrte die Automatik.
»Oh Gott!« Theresa knickte seitlich ein und sank über die sarghafte Koje.
»Warum sind die Systeme inaktiv?« Ich erkundigte mich ganz freundlich bei dem Scheißcomputer und forderte ihn höflich auf, mich über den Gesundheitszustand der Insassin zu informieren.
»Sie sieht so komisch aus.«
Theresa brachte sich fast um bei dem Versuch, durch das