Der Schatz der Kürassiere. Herbert Schoenenborn
Was halten Sie denn davon, die Befragung ganz entspannt hier im Haus durchzuführen? Ich würde gerne dabei sein, damit bei meinen Männern nicht der falsche Eindruck eines Verhörs entsteht. Das bin ich ihnen schuldig, denn ich habe sie in diese Situation gebracht und sie haben ja schließlich auch einiges für mich riskiert. Ich selbst werde mich selbstverständlich im Hintergrund halten und nur eingreifen, wenn Ihr es wünscht.“ Grau blickte Muller an und als dieser kurz nickte, stimmte er Fréchencourts Vorschlag zu. Letzterer ergriff nun wieder das Wort:
„Ich habe die Zeit vor dem Diner damit verbracht, hier im Haus nach Kopien der Pläne zu suchen, obwohl ich weiß, dass mein Vater erst dann Kopien angefertigt hat, wenn er sicher war, nichts mehr ändern zu müssen. Ich wollte nichts unversucht lassen, aber ich habe wie erwartet nichts gefunden. Was ich allerdings entdeckt habe, sind Pläne für eine schwere Geschützlafette, auf die vermutlich die neue Kanone montiert werden sollte. Leider bringt uns das nicht einen Schritt weiter.“
„Hm, das fürchte ich auch“, Graus Stimme klang ein wenig deprimiert.
„Und wir können nichts tun“, ergänzte Muller.
„Das Schlimmste was passieren kann ist doch, dass die Deutschen die Kanone bauen. So lange dies nicht der Fall ist, bleibt doch der Status quo erhalten, oder?“, fragte Gisele Fréchencourt.
„Ja, das ist richtig, Madame Fréchencourt“, stimmte Muller zu.
„Wir wissen nicht, was die Deutschen mit der Kiste gemacht haben und ob sie die Pläne überhaupt gefunden haben, beziehungsweise jemals finden werden. Ich glaube, dass alle Mutmaßungen darüber, was geschehen sein könnte oder noch geschehen wird, reine Spekulationen sind. Man kann eigentlich nur abwarten und hoffen, dass es gut geht“, fuhr Giselle Fréchencourt fort.
„Sie haben vollkommen Recht, Madame Fréchencourt! Wir können in der Tat nur abwarten und unsere Agenten in Berlin und bei den deutschen Rüstungsfirmen, insbesondere bei Krupp, anweisen, ihr Hauptaugenmerk auf den Bau neuer Geschütze zu legen. Was sonst noch zu tun ist, werden wir morgen im Kriegsministerium beraten“, sagte Grau und schaute auf seine Taschenuhr. „Es ist spät geworden. Jean und ich müssen jetzt leider aufbrechen, denn wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns. Wann sollen wir morgen früh hier sein, Richard?“
„So um neun?“, schlug Fréchencourt vor.
„Das ist eine gute Zeit“, bestätigte Grau. Die Gäste bedankten sich für das vorzügliche Essen und verabschiedeten sich von ihren Gastgebern. Dann bestiegen sie die im Hof bereitstehende Kutsche.
„Bis morgen früh um neun“, rief Fréchencourt, wohl wissend, dass es keine neuen Erkenntnisse geben würde.
Kapitel 5
Metz, 26. und 27. August 1870
Das regennasse Pflaster glänzte im trüben Licht der wenigen noch brennenden Gaslaternen. Zwei Männer schlichen sich lautlos an den Häuserwänden entlang und huschten jedes Mal in eine Haustüre oder Toreinfahrt, wenn eine Kutsche oder ein Fuhrwerk zu hören war. Erst wenn sich das Pferdegetrappel wieder entfernt hatte, setzten sie ihren Weg fort. Die Männer hatten ihre Mützen tief in die Stirn gezogen, so dass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte, dunkle weite Umhänge verwischten die Konturen ihrer Gestalten. Unter einer Laterne vor einem Abbruchhaus blieben sie stehen und betrachteten eine handgezeichnete Wegeskizze.
„Hier isses, letzte Hofeinfahrt vor No.12, Couteau!“ Der Mann, der Messer genannt wurde, antwortete krächzend:
„Oui, hier rein, dann noch zwei Mauern rüber.“
Bei einer Messerstecherei vor ungefähr sechs Jahren wurden Couteau durch einen Schnitt in den Hals beide Stimmbänder beschädigt. Weil ihm jedes Wort schwer fiel, hatte er sich angewöhnt, nur die notwendigsten Worte zu sprechen – wenn man bei seinem Geröchel überhaupt von sprechen reden konnte.
„Wir haun besser ab, die Sache gefällt mir nich, un nur wegen was zu mampfen.“ Cheval hatte Schweißperlen auf der Stirn.
„Wassis los mit dir, du has doch sonst kein Schiss. Geht einfach. Mit Schlüssel rein ins leere Haus, Sore nehmen und weg“, zerstreute Couteau die Bedenken seines Partners.
„Un wenn doch jemand drin is?“ Cheval ließ nicht locker.
„Kehle durch!“ Couteau unterstrich seine Aussage mit einer entsprechenden Handbewegung. Der Widerstand Chevals war gebrochen. Die beiden blickten sich noch einmal um. Die Rue des Jardins war menschenleer.
„Los komm“, drängte jetzt Cheval.
Als sie in der Toreinfahrt verschwanden, schlug die Uhr der nahen Kathedrale halb zwei. Die erste Mauer zum linken Nachbarhaus konnten sie leicht überwinden. Lautlos stiegen sie mit Hilfe von halb vermoderten Holzkisten auf die Mauerkrone. Dann ließen sie sich geräuschlos auf das Nachbargrundstück gleiten. Ein prüfender Blick sagte ihnen, dass sie bis hierhin unentdeckt geblieben waren.
„Müssen Rückzug vorbereiten“, flüsterte Cheval und rollte leise eine Regentonne an die Mauer.
Inzwischen hatte der Himmel aufgeklart, und der Hof lag nun im schwachen silbernen Mondlicht. Die Begrenzungsmauer zu Haus No. 12 schien mit fast zweieinhalb Metern Höhe unüberwindbar. Zudem waren auf der Mauerkrone Glasscherben einzementiert.
„Nach`em Plan muss Seite links hinten ne Tür drin sein“, raunte Cheval. Sie schlichen die Mauer entlang. Was sie im schwachen Licht erkennen konnten, war nicht sehr ermutigend. Die verrostete Eisentüre war längere Zeit nicht mehr geöffnet worden.
„Müssen ersmal das Gerümpel wegtun, damit ich ans Schloss rankomme.“ Sie machten sich an die Arbeit. Hier konnte sie von den Häusern aus niemand sehen, denn mehrere Holunderbüsche nahmen jede Sicht.
„Drück jez fest gegen die Tür.“ Cheval steckte einen Dietrich ins Schloss, und nach kurzer Zeit ließ sich die Tür wider Erwarten so weit aufstoßen, dass sie sich so gerade durch den Spalt quetschen konnten. Da die Aktion nicht ganz lautlos vonstatten gegangen war, verharrten die Männer einige Zeit regungslos in einem Gebüsch, dann betraten sie den Hinterhof von Haus No 12. Couteau hatte nun eines seiner drei Wurfmesser in der Hand, die er immer in einem Unterarmholster* mit sich führte. Er beherrschte eine besondere Wurftechnik, bei der das Messer im Flug nicht rotierte, sondern sich wie ein Pfeil fortbewegte. Diese Kunstfertigkeit hatte er in Paris von einem Russen gelernt. Die so geworfenen Messer trafen selbst auf eine Distanz von zwölf bis fünfzehn Metern noch präzise ihr Ziel. Niemand hatte bisher die Begegnung mit Couteaus Messern überlebt.
Couteau war einer der meist gesuchten Verbrecher Frankreichs. Mindestens sechzehn Morde, darunter an drei Polizisten, gingen auf sein Konto. Nachdem ihm in Paris der Boden zu heiß geworden war, hatte er sich vor drei Jahren nach Metz verzogen. Von nun an arbeitete er meistens mit dem „Pferd“ zusammen, wie man in der Unterwelt den geschicktesten Einbrecher von Metz wegen seiner länglichen Gesichtsform nannte. Auf beide waren hohe Belohnungen ausgesetzt, tot oder lebendig. Couteau deutete auf eine schwere Holztüre.
„Los!“ Cheval drängte nun zur Eile. Seit dem Betreten der Toreinfahrt war bereits eine halbe Stunde vergangen. Laut dem Plan führte von der Hoftüre aus ein etwa fünf Meter langer Flur geradewegs zur Eingangshalle. Von der Halle aus mussten sie die Freitreppe zur ersten Etage hochsteigen. Dort im Zimmer hinter der mittleren Tür sollte sich nach Informationen ihrer Auftraggeber das zu entwendende Bild befinden, auf dem eine Frau mit zwei kleinen Kindern dargestellt waren. Die beiden Einbrecher konnten nicht ahnen, dass sich das Bild nicht mehr in dem Haus befand, und wenn sie gewusst hätten, was sie anstatt der erhofften Beute erwarten würde, wären sie auf der Stelle umgekehrt.
So aber standen sie arglos vor der Hoftüre. Cheval zog zwei Schlüssel aus seiner Hosentasche, einen steckte er ins Schloss in der Türmitte, den zweiten in ein Schlüsselloch etwas oberhalb. Cheval drehte zunächst vorsichtig den oberen Schlüssel herum. Kaum hörbar schob sich ein Riegel zur Seite.
„Einmal“, flüsterte Cheval, dann öffnete er das zweite Schloss.
„Und