Der Schatz der Kürassiere. Herbert Schoenenborn
kann Ihren Zorn sehr gut verstehen, aber würden Sie uns bitte zum Fort fahren?“
„Selbstverständlich Monsieur, drei können hinten auf der Pritsche und einer bei mir hier vorne Platz nehmen.“ Muller setzte sich neben den Kutscher, die drei anderen kletterten hinten auf den Wagen unter die Plane. Ein kurzes „Hue“ und das Gespann setzte sich wieder in Bewegung. Pferde und Kutscher gaben nun alles, und nach einer Viertelstunde halsbrecherischer Fahrt hielt das Fuhrwerk an einem Schrankenposten an. Nachdem ein Wachsoldat die Papiere Mullers geprüft hatte, durften sie passieren, und nach hundert Metern rumpelte das Trainfahrzeug in einen der Festungshöfe.
„Wir sind am Ziel“, vermeldete Muller.
Kapitel 2
Fort Plappeville, 21. und 22. August 1870
Mit bleichen Gesichtern und den Kutscher insgeheim verfluchend, gingen die Männer leicht schwankend durch die offen stehende Stahltüre, über der ein Schild mit der Aufschrift „Kommandantur“ hing. Am Ende eines von zwei Gasleuchten schwach erhellten Gewölbeganges lag die Wachstube. Der wachhabende Offizier, ein Lieutenant und die drei anwesenden Soldaten salutierten, als sie die Wachstube betraten. Der Offizier wandte sich an Grau und Muller:
„Messieurs Colonel*, Sie und Ihre Begleiter werden schon erwartet.“ Philippe pfiff leise durch die Zähne, als er vom militärischen Rang der Angesprochenen hörte und auch Fréchencourt war sichtlich überrascht. Ein Soldat öffnete eine Tür und die Männer betraten einen großen quadratischen Raum mit grob verputzten weißen Wänden. Was sofort ins Auge fiel, waren die beiden gekreuzten Lanzen mit den daran befestigten Trikoloren, mit denen die rückwärtige Wand des sonst schmucklosen Raumes dekoriert war. Davor befand sich ein großer dunkler Eichenschreibtisch, der seine besten Tage schon hinter sich hatte.
Der Offizier, der vor dem einzigen Fenster des Raumes stand und den Eintretenden zunächst den Rücken zugewandt hatte, drehte sich nun um und kam den Besuchern entgegen. Grau machte die Männer miteinander bekannt:
„Lieutenant-colonel* Jacques Duchesne, der Festungskommandant. Monsieur Richard Fréchencourt und seine rechte Hand Monsieur Philippe Perçu.“ Duchesne musterte Fréchencourt und Philippe aufmerksam aber nicht unfreundlich.
„Ich hatte eigentlich Ihren Vater erwartet, aber auch Sie Messieurs sind selbstverständlich innerhalb der Mauern von Fort Plappeville willkommen. Sie befinden sich hier in der vordersten Linie, aber das sollte Sie nicht beunruhigen, denn hier sind Sie sicher wie in Abrahams Schoß. Die Deutschen wissen ganz genau, dass sie sich bei einem Angriff eine blutige Nase holen würden. Deshalb begnügen sie sich damit, uns zu belagern und uns hin und wieder eine Granate zu schicken, offenbar um uns zu zeigen, dass sie noch da sind“, spottete Duchesne. Als wenn der Gegner die Worte des Festungskommandanten gehört hätte. vernahmen sie ein unangenehmes Zischen. Sekundenbruchteile später schlug eine Granate irgendwo in der Nähe ein. Eine heftige Explosion ließ die Mauern erzittern und brachte die Deckenbeleuchtung ins Schwanken. Fréchencourt und Philippe duckten sich automatisch.
„Die haben auch schon besser gezielt. Ist wohl im Graben eingeschlagen“, sagte Duchesne unaufgeregt und grinste. Seine Artillerie antwortete umgehend mit einer Salve.
Der Festungskommandant bat seine Besucher an einem Kartentisch Platz zu nehmen und wandte sich dann erklärend an Fréchencourt und Philippe:
„Pierre, Jean und ich kennen uns schon seit Jahren. Wir waren zusammen auf der Militärakademie, danach trennten sich unsere Wege. Ich kam zur kämpfenden Truppe und die beiden heuerten beim Kriegsministerium an. Für Pierre und Jean hat sich dieser Schritt gelohnt, Sie haben sicher ihre Offiziersränge erfahren“, und grinsend fügte er hinzu: „Bei uns Praktikern lassen die Beförderungen nun einmal etwas länger auf sich warten als bei den Theoretikern vom Kriegsministerium. Die beiden sind bereits Colonel und ich bin erst Lieutenant-colonel“, seufzte er. „Ich habe mit ihnen gewettet, dass ich sie eines Tages im Rang überholen werde.“ Grau und Muller lachten amüsiert. Sie ahnten nicht, dass Duchesne diese Wette gewinnen würde. Der Kommandant läutete seiner Ordonanz.
„Messieurs, darf ich Ihnen ein Glas Wein oder lieber etwas Alkoholfreies anbieten?“ Alle vier stimmten für Wein.
„Aber nur ein Glas für jeden, Jacques. Du weißt ja, wir haben noch etwas vor“, meinte Grau. Duchesne zog die Augenbrauen hoch:
„Klar, ich habe die Vorbereitungen vom Fenster aus beobachtet, aber Pierre, erzähle mir doch mal, wie und wo ihr Monsieur Fréchencourt gefunden habt.“ Grau schilderte Duchesne ausführlich das Geschehen, angefangen mit ihrem Eintreffen in der Rue des Jardins No.12 bis zu ihrer Ankunft im Fort.
Duchesne hörte der Schilderung aufmerksam zu und schaute dabei abwechselnd zu Fréchencourt und Philippe. Als Grau geendet hatte, sagte der Festungskommandant:
„Monsieur Fréchencourt., ich hätte auch nicht anders gehandelt als Sie. Ich hoffe nur, Ihre Männer sind durchgekommen.“
„Das hoffe ich allerdings auch“, erwiderte Fréchencourt. Inzwischen hatte die Ordonanz, ein junger Fähnrich, die Gläser mit einem erlesenen Spätburgunder gefüllt. Nachdem der Offiziersanwärter den Raum wieder verlassen hatte, erhob sich Duchesne mit dem Weinglas in der Hand.
„Lasst uns auf ein gutes Gelingen anstoßen“, sagte er. „Messieurs, dürfen Philippe und ich nun endlich erfahren, was da gut gelingen soll?“, fragte Fréchencourt.
„Ach, haben die Schlingel Sie noch nicht eingeweiht? Dann gehen Sie bitte einmal mit mir zum Fenster“, erwiderte Duchesne. Die Gruppe folgte ihm. Was Fréchencourt und Philippe auf dem Festungshof sahen, ließ sie tief durchatmen, dort lag ausgebreitet eine graue Ballonhülle.
„Den haben wir noch nicht lange. Kurz vor Kriegsbeginn hat Paris damit begonnen, alle hiesigen Festungsanlagen mit Ballonen für Aufklärungszwecke auszustatten. Soviel ich weiß, hat aber bis jetzt nur Plappeville einen bekommen. Wie Sie sehen, prüfen meine Männer gerade die Verbindungen der Ballonhülle mit dem Korb. Sobald es dunkel ist, wird der Ballon mit Leuchtgas gefüllt, dann können Sie starten“ erklärte Duchesne.
„Bei den tief hängenden Wolken und dem leichten Nieselregen dürften Sie von den Deutschen unentdeckt bleiben. Wichtig ist nur, dass der Ballon schnell an Höhe gewinnt. Der Wind ist frisch und kommt aus Nordost und soll sich, wie unser ‚Wetterfrosch’ vorhersagt, vorläufig nicht drehen. Diese Luftströmung wird Sie ungefähr in Richtung Paris treiben. Bessere Voraussetzungen für den Überflug der gegnerischen Linien gibt es nicht.“
„Und wer soll das Ding manövrieren?“, fragte Fréchencourt, der während den Ausführungen des Festungskommandanten mit Schweißperlen auf der Stirn starr in den Innenhof geblickt hatte.
„Ich!“, antwortete Muller. „Ich habe schon einige Ballonfahrten hinter mir und bin, wie Sie sehen, immer wieder heil runtergekommen. Wenn wir die ersten vierzig Kilometer geschafft haben, sind wir in jedem Fall jenseits der feindlichen Linien, alles andere wird sich dann ergeben.“ Fréchencourt warf einen Seitenblick auf Philippe, der zufrieden lächelnd das Treiben auf dem Hof beobachtete:
„Du hast wohl gar keine Bedenken Philippe?“
„Warum sollte ich? Im Gegenteil, mein Jugendtraum vom Fliegen geht in Erfüllung, wenn auch nicht unter idealen Bedingungen, aber immerhin. Zudem ist das unsere einzige Chance von hieraus unbehelligt nach Hause zu kommen.“
„Mir ist unwohl bei der Sache, aber mir bleibt ja keine andere Wahl“, stellte Fréchencourt betrübt fest.
„So, lasst uns jetzt endlich anstoßen.“, sagte der Festungskommandant. Die Männer erhoben ihre Gläser und prosteten sich zu.
„Kommen wir nun wieder zum Grund unseres Zusammenseins, folgen Sie mir bitte zum Kartentisch, Messieurs“, forderte Duchesne seine Besucher auf. An Muller gewandt sagte er:
„Jean, hier ist die gewünschte Karte. Wir haben die momentane Windrichtung eingezeichnet und wenn es dabei bleibt, werdet ihr hier irgendwo zwischen Paris und Orleans landen.“