Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms. Melissa C. Feurer

Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms - Melissa C. Feurer


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um. „Warte hier. Ich sehe nach, was los ist, und komme wieder.“

      Sie wusste, dass es das einzig Sinnvolle war, aber es fühlte sich dennoch falsch an, Chas zurückzulassen. Dass er nichts erwiderte, machte es nicht besser.

      Trotzdem kletterte Mira, so schnell sie nur konnte, aus ihrem Versteck.

      Draußen war es heller. Mondlicht beschien den Autofriedhof, die Berge unnützer Metallteile und den freien Platz, auf dem Urs und Biene in inniger Umarmung standen.

      Als Mira neben ihnen den Schrotthaufen hinabstolperte, löste Biene sich von Urs. „Ihr müsst mitkommen. Ihr glaubt nicht, was in der Stadt vor sich geht!“

      „Aber die Ausgangssperre …“

      „Glaubt mir, heute kümmert das keinen.“ Mira fiel auf, dass Bienes Gesicht ganz rot war. Das kurze Haar stand wild von ihrem Kopf ab. Sie stellte einen offenbar gut gefüllten Rucksack am Fuß des Schrotthaufens ab und nahm Urs bei der Hand. Er ließ sich ohne zu zögern von ihr mitziehen.

      Mira brauchte ein wenig länger, aber sie folgte den beiden. In leichtem Trab näherten sie sich der Stadt und sprachen dabei nicht. Deshalb hörte Mira die Stimmen auch schon von Weitem. Dem Geräuschpegel nach zu urteilen, musste halb Cem auf den Beinen sein.

      Die ersten Häuser, die in ihre Sichtweite kamen, bestätigten diesen Eindruck. Menschen standen in offenen Türen oder lehnten sich aus den dunklen Fenstern. Strom hatten die privaten Haushalte um diese Zeit längst nicht mehr, aber manche Leute hatten Taschenlampen oder sogar Kerzen bei sich, die dem weißen Licht des Mondes ein wenig nachhalfen und neugierige, aufgeregte und erschrockene Gesichter erhellten. Man reckte die Hälse, sah die Straße hinab und unterhielt sich dabei aufgeregt.

      Die drei Neuankömmlinge beachtete niemand. Völlig unbehelligt folgten Urs und Mira Biene weiter die Straße hinab, wo das Aufgebot an nächtlichen Schaulustigen noch zunahm. Stellenweise hatte sich eine richtige Menschenmasse gebildet.

      Dicht gedrängt standen sie in den Straßen. Erwachsene und Kinder, Mittellose und offensichtlich Bessersituierte, besorgt Tuschelnde und sich schaulustig Reckende. Die ganze Szene war von rötlichem Schein erhellt, der direkt aus dem Herzen der Menschenmenge zu dringen schien. Er ließ die Schatten der Versammelten tanzen und flackern. Jemand musste dort ein Feuer entzündet haben.

      Mira musste sich strecken, weil die Leute hier so dicht standen, dass sie nur die Rücken einiger Frauen direkt vor sich sehen konnte. Eindeutig, Flammen. Mannshoch loderten sie bereits. In Miras Bauch zog sich etwas schmerzhaft zusammen. Warum machte niemand Anstalten, das Feuer zu löschen? Wussten die Menschen nicht, wie rasch solch ein Brand sich ausbreiten konnte? Die Armenviertel von Leonardsburg waren innerhalb einer einzigen schrecklichen Feuernacht nahezu dem Erdboden gleichgemacht worden.

      „Nein!“

      Mira fuhr herum, um dem Ursprung des gellenden Schreis nachzugehen. Aus einem Haus zu ihrer Rechten schleppten zwei Wachmänner eine Kiste. Eine Frau mit langem, grauem Haar machte es ihnen fast unmöglich, indem sie sich an ebendiese Holzkiste klammerte.

      Ein junger Mann wiederum hielt die Frau am Arm zurück. „Mutter, bitte“, flehte er. „Lass sie ihre Arbeit machen. Sie werden dich sonst verhaften. Ich bitte dich!“

      Aber die alte Frau dachte gar nicht daran. Was immer sich in der Kiste befand, es schien von enormem Wert für sie zu sein. Mit einer Kraft, die man ihren dünnen Armen kaum zugetraut hätte, zerrte sie daran. „Nehmen Sie sie mir nicht weg. Nicht ins Feuer, bitte, nicht ins Feuer!“

      Die Umstehenden traten hastig einige Schritte zurück, als die Wachmänner die Kiste samt der Frau durch die Tür nach draußen zerrten. Aus dem Augenwinkel sah Mira, wie Urs zuckte, aber Biene legte ihm die Hand auf den Arm, und er blieb widerwillig, wo er war.

      „Nicht verbrennen!“, flehte die Frau und zog mit aller Kraft an der hölzernen Kiste − ohne auch nur den geringsten Erfolg. Im Feuerschein blitzte es silbern auf, als einer der Wachmänner eine Schusswaffe zog.

      „Mutter!“ Der Mann packte die Frau an beiden Schultern, um sie aus der Schusslinie zu ziehen, doch der Wachmann schien gar nicht vorzuhaben, auf sie zu schießen. Stattdessen rammte er den metallenen Kolben der Waffe so unvermittelt in ihre Rippen, dass die Frau von den Füßen gerissen wurde. Ihr Sohn stürzte sofort an ihre Seite. Mira wäre vielleicht auch zu ihr geeilt oder hätte sich zumindest vergewissert, ob die Frau wieder auf die Beine kam. Doch in diesem Moment traten die Menschen zur Seite, um den Wachleuten Platz zu machen, und Mira erhaschte einen Blick auf das Feuer.

      Es mussten Hunderte sein, vielleicht Tausende. Manche waren aufgeklappt und offenbarten ein letztes Mal ihre dicht beschriebenen Seiten, die oft gelesenen, geliebten Worte, die mancher im Schein einer Taschenlampe in sich aufgesogen hatte, sie vor sich hingemurmelt, auswendig gelernt haben mochte. Andere waren verschlossen, doch auch die ledernen, leinenen, glänzenden Umschläge konnten das kostbare Gut aus dünnem, leicht entflammbarem Papier nicht schützen. Die Glut fraß sich in dicke Wälzer, verschlang dünne Heftchen und kroch über kunstvolle Titelbilder. Nichts blieb verschont.

      Am Rande der Flammen drehten die beiden Wachmänner die Kiste um, und drei weitere Dutzend Bücher ergossen sich in das Inferno.

      Mira schob sich an den Menschen vorbei, drängte sich so nahe an das Feuer, dass sie die Hitze auf ihrem Gesicht spürte. Die gleiche Hitze, die nur einen knappen Meter von ihr Millionen von kostbaren gedruckten Worten und Sätzen vernichtete. Unfähig, sich der glühenden Hitzequelle weiter zu nähern, ging sie in die Hocke und starrte in die Flammen. Die Luft flirrte vor Hitze und ließ Miras Blickfeld verschwimmen, aber dennoch glaubte sie, einen vertrauten Titel unter den frisch hinzugekommenen Büchern zu erblicken. Ein Buch, das sie selbst gelesen und geliebt hatte. Und Hunderte, die sie nicht kannte und nun vielleicht auch niemals kennen würde.

      Der Rauch brannte in Miras Augen und Kehle, der beißende Geruch überdeckte jede Erinnerung an den unvergleichbaren Duft papierner Seiten und Druckerschwärze, der ihr in der Buchhandlung „Porters Höhle“ so vertraut geworden war.

      „Und das sind alles verbotene Schriften?“, fragte eine der Frauen, an denen Mira sich vorbeigedrängt hatte. Sie hatte die Stimme gesenkt. „So viele?“

      „Unsinn, ich denke, sie wollen auf Nummer sicher gehen.“ Ihre Begleiterin schnalzte mit der Zunge. „Hier und dort soll es noch verbotene Schriften gegeben haben, und so können sie sicher sein, dass sie alle erwischen. Längst überfällig, wenn du mich fragst. Es gehört sich sowieso nicht, zu lesen. Hat etwas Zwielichtiges, das musst du zugeben.“

      „Und so viele unserer Nachbarn hatten Bücher! Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.“

      „Nun, ich habe gehört, die Hauptstadt ist schon seit Monaten völlig bücherfrei. Höchste Zeit, dass auch Cem mit dem Fortschritt geht. Heute Abend soll es in vielen Städten Bücherverbrennungen geben, wenn man den Gerüchten trauen kann. Macht die Welt um einiges sicherer.“

      Langsam rückte Mira von den schwatzenden Frauen ab und näher ans Feuer. Nun hätte sie beinahe die Hand ausstrecken und einen der verkohlten Buchkadaver berühren können. Vielleicht war ein Teil davon noch lesbar …

      „He, Mädchen!“

      Mira schreckte ertappt zurück.

      Ein Wachmann war dicht hinter sie getreten. „Mach, dass du da wegkommst! Gesindel“, wandte er sich dann an einen seiner Kollegen. „Will die Überreste wohl auf dem Schwarzmarkt zu Geld machen.“

      Mit einem Gefühl, als würde ihr Magen in Sekundenschnelle im freien Fall nach unten sacken, wurde Mira sich bewusst, dass sie noch immer Bienes Außenstädterkleidung trug. Und das vermutlich noch zu ihrem Glück, denn das war ihre einzige Tarnung, die nicht einmal besonders gut war.

      Sie erhob sich langsam, ließ den Blick aber geflissentlich auf den Boden gerichtet, damit die Wachmänner ihr nicht ins Gesicht sehen konnten. An ihre klobigen Stiefel gewandt, murmelte sie: „Entschuldigung.“ Sie wartete einen Augenblick, ob sie vorhatten, sie aufzuhalten, doch als nichts geschah, tauchte sie hastig wieder in der Menge unter. Sie stieß beinahe


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