Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms. Melissa C. Feurer

Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms - Melissa C. Feurer


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      „Die Bücher.“ Bienes Mundwinkel zuckten. „Wir haben den Laden nach etwas Essbarem durchsucht, ehe wir die Stadt verlassen haben. Edmunds Lieblingsbücher fehlten.“

      Etwas Warmes flutete durch Miras Eingeweide. Zuerst hielt sie es für bloße Erleichterung, aber dann wurde ihr klar, dass es Zuneigung war. Abgesehen von Chas, war Edmund Porter der einzige Mensch, den sie kannte, der Bücher ebenso sehr liebte, wie sie es tat. Sie waren seine Schätze. Es überraschte sie kein bisschen, dass er es nicht übers Herz gebracht hatte, sie allesamt zurückzulassen.

      „Nathaniel und Theodore sind zurück in das staatliche Erziehungsheim gegangen.“ Biene schluckte. „Dort sind sie versorgt und … im Gegensatz zu den Vergessenen haben sie eine Zukunft. Eine mit Bändchen. Mit Identität.“

      Unwillkürlich griff Mira nach dem Stück Plastik an ihrem Handgelenk. Bedeutete es so viel? Sie trug es nun schon so lange und hatte es als selbstverständlich hingenommen, dass es ihr Zugang und Güter verschaffte, wenn sie es brauchte. Ihr Blick fiel auf Chas’ leeren Arm. Sie hatte stehlen müssen, um ihn am Leben zu halten. Einfach nur deshalb, weil er kein Band hatte, das ihn befugte, in ein Staatsgesundheitszentrum zu gehen. Keine Berechtigung, etwas zu kaufen, zur Schule zu gehen, einen Beruf auszuüben oder auch nur zu existieren.

      Plötzlich war sie ihren Eltern unendlich dankbar. Sie hatten Mira diese Rechte nicht genommen. Sie hatten sie nicht gemeldet. Das Plastikband an ihrem Handgelenk war nicht nutzlos. Sie war immer noch eine Bürgerin dieses Staates.

      „Und Happy?“, fragte Mira.

      „Sie und die Mädchen haben sich von Urs den Weg nach Torvald erklären lassen. Stella glaubt, dort Verwandte zu haben, bei denen sie bleiben können.“

      „Stella glaubt?“

      Biene biss sich auf die Unterlippe. „Genau genommen hat Stella überhaupt keine Verwandten. Jedenfalls nicht laut Definition des Staates.“

      „Du meinst, weil sie eine Vergessene ist?“ Mira umklammerte ihr Bändchen fester. „Weil sie keine Identität mehr hat? Deshalb hat sie doch trotzdem …“

      „Weil sie nie eine hatte“, unterbrach sie Biene. „Stella ist keine Vergessene. Um vergessen zu werden, musst du zuerst einmal erfasst gewesen sein. Aber das war sie nie. Sie wurde nicht einmal in einer staatlichen Einrichtung geboren, geschweige denn registriert. Eigentlich dürfte es sie gar nicht geben.“

      Mira betrachtete ihre Hände, die immer noch die Glasflasche hielten. „Also haben ihre Eltern die Schwangerschaft gar nicht gemeldet? Sie waren nicht bei den Untersuchungen? Ich meine … ist das nicht unverantwortlich? Stella hätte krank sein können! Ihre Eltern wussten doch gar nicht …“

      „Darum geht es denen doch gar nicht.“ Bienes Miene war steinern geworden. „Sie wollen nur die Kontrolle über die Einwohnerzahlen behalten. Und sicherstellen, dass sie Einfluss auf die ersten Lebensjahre der Kinder nehmen können. Hast du nicht gehört? Sie wollen die Kinder jetzt erst mit sechs Jahren bei ihren Familien leben lassen. Bis dahin sollen sie in den staatlichen Einrichtungen bleiben. Mit Besuchsrecht natürlich, wegen der Bindung zu den Eltern.“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Ihre ach so guten Absichten rechtfertigen es, dass sie die Familien zerstören.“

      Mira hatte Biene noch nie so bitter erlebt. „Was ist eigentlich … was ist aus deinem Vater geworden?“, fragte sie, sich jäh erinnernd, dass auch Bienes Familie Opfer der Kontrollausübung des Staates geworden war.

      „Sie haben ihn gehen lassen. Aber er hat keine Arbeitserlaubnis mehr und kann unsere Familie nicht ernähren. Ich habe drei kleine Geschwister.“ Sie starrte an Mira vorbei in den wolkenlosen Himmel. „Sie bräuchten mich zu Hause. Jede helfende Hand bräuchten sie. Aber wenn ich geblieben wäre, hätte ich sie alle in Gefahr gebracht. Wenn herauskommt, dass ich Teil der gesuchten Gruppe war …“ Sie verstummte.

      Zuerst glaubte Mira, dass die Tränen ihr die Stimme abgeschnürt und ihr das Sprechen unmöglich gemacht hatten. Doch dann sah sie, wie Panik über Bienes Gesicht flackerte.

      Mira wandte den Kopf, um Bienes Blick zu folgen, doch sie hörte es, noch bevor sie irgendetwas sah. Ein Auto. Keines der antriebslosen Wracks auf dem Schrottplatz um sie herum, sondern eines mit einem funktionstüchtigen Elektromotor.

      Mira konnte die wenigen Male, die sie dieses Geräusch bisher gehört hatte, an einer Hand abzählen. In Leonardsburg gab es keine Fahrzeuge. Die Stadt war klein genug, um alles zu Fuß zu erreichen. Nur selten kamen Staatsbeamte von außerhalb.

      Aber das leise Knirschen von Reifen auf rauem Untergrund hätte sie überall wiedererkannt. Als kleines Mädchen hatte sie aufgeregt darauf gelauscht. Das hatten alle Kinder. Sie waren auf die Straße gelaufen, um einen Blick auf das wundersame Gefährt zu werfen, wenn einmal eines in der Stadt gewesen war, und hatten es mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Faszination beobachtet.

      Auch jetzt schlug Miras Herz ihr augenblicklich bis zum Hals. Nicht vor Aufregung, sondern vor Entsetzen. Ein Auto konnte nur eines bedeuten: Jemand war ihnen auf der Spur.

       Kapitel 5

       Unter der Oberfläche

      Urs war hellwach, kaum dass Biene ihn sachte an der Schulter schüttelte. Mira konnte ihre geflüsterten Worte kaum verstehen, so leise wisperte sie sie in Urs’ Ohr. Darauf bedacht, sich ebenso lautlos zu verhalten, sprang Mira auf die Beine. Sie wussten nicht, wie nahe die Wachposten waren, noch, mit wie vielen sie es zu tun hatten. Einzig dass es sich um Wachposten handeln musste, das stand außer Frage. Wer sonst verfügte über ein funktionstüchtiges Fahrzeug?

      Das Geräusch der Reifen verstummte, und Metall knallte auf Metall. Entweder Miras Gehör war vor Angst geschärft, oder sie waren ihnen tatsächlich ungeheuerlich nahe. Vielleicht gleich dort hinter dem windschiefen Haufen aus rostigen Autoteilen.

      Auf halber Höhe des enormen Hügels war ein gelbes, größtenteils erhaltenes Fahrzeug eingeklemmt. Die Reifen fehlten, und sein Heck war völlig im Fundament des Schrotthaufens verschüttet. Aber die vordere Tür war zu erreichen.

      „Da hinein!“ Urs und Biene folgten ihrem Nicken. Mira wartete nicht auf etwaigen Widerspruch. Natürlich war es riskant. Der gelbe Wagen war verbeult, die Tür womöglich völlig verkeilt, die Scharniere verrostet und der ganze Berg eine tödliche Falle, wenn er beim Versuch, ihn zu erklimmen, in sich zusammenbrach.

      Irgendwo − schwer zu sagen, ob fern oder schon ganz nah − hörten sie gedämpfte Stimmen.

      Urs rappelte sich auf und rannte in die von Mira gewiesene Richtung. Mira sah zu, wie er mit sorgfältigen Schritten prüfte, ob der Berg ihn halten würde, doch als er sich schließlich an der gelben Tür zu schaffen machte, ließ sie sich neben Chas auf die Knie fallen.

      Es hatte keinen Sinn, ihn zu wecken und ihm die Situation zu erklären. Nach so langer Zeit ohne Bewusstsein, nach so heftigem Kampf mit dem Tod, war Chas nicht in der Lage, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Er konnte den Berg nicht erklimmen und in den Innenraum des Wagens klettern. Vermutlich konnte er noch nicht einmal ohne ihre Hilfe laufen.

      Stattdessen schob sie die Hände unter seine Schultern, griff ihn, so gut sie konnte, unter den Achseln und zerrte ihn über den staubigen Grund mit sich.

      Noch ehe Biene mitanpacken konnte, riss Chas die Augen auf und setzte zu heftigem Protest an.

      „Du musst still sein“, herrschte Mira ihn an. „Kein Wort! Wir retten dir gerade das Leben.“

      Und tatsächlich biss Chas die Zähne zusammen und blieb stumm. Nur als sie ihn am Fuß des Schrotthaufens in eine aufrechtere Position ziehen wollten, entfuhr ihm ein schmerzvolles Stöhnen.

      Einen halben Meter über ihnen war es Urs derweil gelungen, die Tür des gelben Wagens aufzubrechen. Sie knallte gegen die Wand aus rostigen Metallstücken und brachte einige davon zu Fall. Mit ohrenbetäubendem Scheppern rutschten sie den Hang hinab. Eines davon traf Mira am Knöchel, doch Schmerz


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