Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms. Melissa C. Feurer

Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms - Melissa C. Feurer


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beiden nicht, wie eng umschlungen sie und Chas in dieser einen Nacht geschlafen hatten. Der Wunde und der Albträume wegen natürlich. Aber dennoch.

      Trotzdem rückte Mira auch dann nicht weg, als Biene sich auf Chas’ anderer Seite niederließ, um ihm etwas zu trinken zu geben.

      Mira beschloss, nicht nachzufragen, woher Biene das Wasser bekommen hatte. Sie war sich beinahe sicher, dass sie keine zufriedenstellende Antwort bekommen würde. Urs hatte ihre Frage nach der Herkunft des Medikaments für seine Verletzung bereits ignoriert, und im Augenblick war sie zu sehr auf die Hilfe der beiden angewiesen, um sie mit ihrem Misstrauen vor den Kopf zu stoßen. Dennoch war sie sich beinahe sicher, dass sie ihr etwas verheimlichten.

      Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, Chas einige Schlucke Flüssigkeit einzuflößen, dann ließ Urs sich, erschöpft von der getanen Arbeit, einen knappen Meter neben ihnen nieder und seufzte: „Jetzt können wir nur noch beten.“

      Und das taten sie. Zuerst gemeinsam und dann jeder still für sich. Irgendwann schlief Biene an Urs gekuschelt ein. Er selbst saß da wie ein Fels, regungslos und unerschütterlich, während seine Lippen sich unablässig lautlos bewegten.

      Mira kauerte immer noch an Chas’ Seite, aber auch ihre Lider waren schwer geworden, und die Worte formten sich nur noch zäh in ihrem Kopf. „Bitte … lass ihn … leben. Lass ihn leben.“

       Kapitel 4

       Angst

      Mira erwachte vom warmen Gefühl der morgendlichen Herbstsonne auf ihrem Gesicht. Der Rest ihres Körpers fühlte sich wund an, und ihre Muskeln schmerzten von der kauernden Haltung, in der sie auf dem steinigen Boden lag. Sie hatte den Verdacht, dass das Muster von unzähligen kleinen Kieseln sich in ihre rechte Gesichtshälfte eingegraben hatte.

      Mühsam richtete sie sich auf und stieß dabei an Chas, der dicht neben ihr lag. Langsam kehrte die Erinnerung an den vergangenen Tag zurück. Sie war betend an seiner Seite eingeschlafen; deshalb die unbequeme Position, deshalb der schale Geschmack von Angst auf ihrer Zunge.

      Urs saß im Schneidersitz, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, den Kopf in die Hände gestützt, aber offenbar wach. Er murmelte ein „Amen“, ehe er den Blick auf Mira fokussierte und sich zu einem müden Lächeln durchrang. Biene schlief, den Kopf auf seinen Oberschenkel gebettet.

      „Hast du etwa die ganze Nacht gebetet?“ Miras Mund war trocken und ihre Stimme ein heiseres Krächzen. Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte ihr Blick zu Chas und tastete über sein Gesicht. Er schlief ganz ruhig.

      „Es geht ihm besser“, sagte Urs, ebenfalls rau.

      Unwillkürlich streckte Mira die Hand aus und legte sie an Chas’ Wange. „Er hat kein Fieber mehr.“

      Urs schüttelte langsam den Kopf. „Er wird es schaffen.“

      Mira schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, verschwamm Chas’ ruhiges Gesicht vor ihr. „Warum ist er immer noch nicht bei Bewusstsein?“

      „Er ist schwach. Sein Körper muss sich erholen. Es war …“ Urs verstummte, doch Mira hatte schon verstanden. Er hatte selbst nicht immer daran geglaubt, dass Chas überleben würde.

      „Danke.“ Mira wischte sich hastig über beide Wangen, aber Urs senkte höflich den Blick und betrachtete seine schlafende Freundin. „Für alles, was du für Chas getan hast. Ich … ich weiß nicht, ob ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Du hast ihm das Leben gerettet.“

      „Es gibt eine Zeit zu leben und eine Zeit zu sterben. Chas’ Zeit war noch nicht gekommen“, wies Urs ihren Dank zurück. „Schau dir unseren Freund Ari an. Gott hat ihn verschont, und am Ende hat der kleine Kerl uns alle gerettet.“ Behutsam hob er Biene von seinem Bein und bettete ihren Kopf stattdessen auf seinen Arm, indem er sich neben sie legte. „Mit Chas“, sagte er mit träger werdender Stimme, „hat er noch viel vor, da bin ich sicher.“ Keine Minute später war er an Bienes Seite eingeschlafen.

      Mira saß an Chas’ Seite, die Gedanken zäh wie Honig und die Lider schwer. Obwohl sie geschlafen hatte, forderten die Anstrengung und Anspannung der vergangenen Stunden ihren Tribut. Aber während Urs und Biene schliefen, zwang Mira sich, wach zu bleiben. Was, wenn es Chas wieder schlechter ging? Jemand musste ein Auge auf ihn haben und notfalls die anderen wecken. Hilfe holen. Irgendetwas.

      Ihr Blick tastete über Chas’ Gesicht, die blutigen Lippen, die entspannten Züge, die geschlossenen Augen. Seine Lider zuckten. Etwas in Mira zog sich schmerzhaft zusammen. Hatte er wieder einen Albtraum?

      Sie streckte die Hand nach ihm aus, zog sie aber hastig zurück, als er die Augen aufschlug, sie endlich, nach so vielen Stunden des Bangens um sein Leben, wieder öffnete.

      Sein Blick war noch immer ein wenig glasig, das satte Gold seiner Augen konnte über die tiefen Schatten darunter nicht hinwegtäuschen. Nicht dass Mira das mehr als zur Kenntnis nehmen konnte; durch den Tränenschleier verschwamm Chas’ Gesicht vor ihren Augen.

      „Was … ist passiert?“, nuschelte er, versuchte sich aufzurichten, ließ es dann aber doch bleiben.

      Mira legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er sollte seine eben erst wiedergewonnenen Kräfte nicht überstrapazieren. „Deine Wunde hat sich entzündet. Du warst … du warst völlig weggetreten.“ Allein die Erinnerung jagte ihr eine Gänsehaut über den Körper.

      „Wie bin ich …“ Chas kniff die Augen zusammen, als versuche er angestrengt, sich zu erinnern, was er hatte sagen wollen. „Wie bin ich hierhergekommen?“

      Mira sog zittrig die Luft ein. Wie viel sollte sie Chas erzählen? Selbst für sie, die es erlebt hatte, waren die letzten vierundzwanzig Stunden schwer in Worte zu fassen, und sie wollte nicht, dass Chas sich im Nachhinein noch sorgte. Was alles hätte schiefgehen können! Sie hatte Kopf und Kragen riskiert.

      „Ich hab dich hier versteckt und bin in ein … nach Cem gegangen, um Medikamente zu besorgen“, fasste sie zusammen. „Unterwegs hab ich Urs und Biene getroffen, und sie haben mir geholfen … dabei, die Medikamente zu dir zu bringen. Urs wusste, was dir helfen könnte, und … na ja, es scheint gewirkt zu haben.“

      Chas atmete geräuschvoll ein und aus. Mira hoffte, dass er keine Fragen stellen würde. In dieser Version klang ihr lebensgefährliches Abenteuer ganz harmlos, und dabei wollte sie es fürs Erste belassen.

      „Noch ein Mensch, dem ich mein Leben verdanke“, seufzte Chas jedoch, als wäre ihm gar nicht aufgefallen, welch gewaltige Löcher Miras Bericht aufwies.

      „Ja, Urs war großartig. Er wusste genau …“

      „Ich meine dich.“

      Mira begegnete kurz seinem Blick, und das Gold von Chas’ Augen schien sie aus ihrem tiefsten Inneren heraus zu wärmen. „Kann ich … möchtest du etwas trinken? Ich meine … ich kann dir helfen …“ Sie verstummte. Halb wappnete sie sich für Chas’ übliche Reaktion auf Fürsorge oder Mitleid. Doch er nickte. „Ja, bitte.“

      Fast gegen ihren Willen stahl sich ein Grinsen auf ihr Gesicht.

      „Was?“

      „Du hast ,bitte‘ gesagt.“ Mira griff nach der Wasserflasche. „Du hast noch nie ,bitte‘ gesagt, soweit ich mich erinnere.“

      Ein kleines Schnauben drang über Chas’ Lippen. „Ab und an kommt eben auch meine königliche Erziehung durch.“

      Sie warfen beide einen Blick zu Urs und Biene, die sich nach wie vor in Hörweite befanden. Sie hatten keine Ahnung, wer Chas wirklich war. Doch beide schliefen tief und fest.

      „Wie war es?“, fragte Mira gedämpft, während sie die Flasche aufschraubte. „Ich meine … jetzt bist du Chas. Aber wie war es, Carl Auttenberg zu sein, Nicholas Auttenbergs Sohn?“

      Chas wandte das Gesicht von ihr ab. „Kompliziert“, sagte er leise. „Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber er war ein


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