Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms. Melissa C. Feurer
mit einem heftigen Ruck zu.
Dunkelheit und Stille umhüllten Mira. Ihr eigener Herzschlag kam ihr unnatürlich laut vor, und sie wagte nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.
Draußen schepperte es wieder, und mit einem sanften Vibrieren erwachte der Lieferwagen unter ihr zum Leben und setzte sich fühlbar in Bewegung.
Endlich fiel die Starre von Mira ab. Lauter, als es vermutlich klug war, ließ sie die gesammelten Lebensmittel in eine der aufgerissenen Kisten sinken. Möglicherweise konnte sie die Türen von innen öffnen und entkommen. Vielleicht …
Mira hielt in der Bewegung inne, als die Erkenntnis durch die Panik zu ihr hindurchsickerte: Sie steckte nicht in der Falle. Jedenfalls nicht ausschließlich. Sie befand sich auch auf dem Weg hinter die unüberwindbaren Mauern der Festung.
Woher wussten die Helden in Romanen immer, wann der richtige Moment für den tollkühnen Sprung ins Ungewisse da war? Mira lauerte in der Dunkelheit des Lieferwagens, während ihre Gedanken sich überschlugen. Sollte sie die Tür aufstoßen und hinausspringen? Aber was, wenn sie mitten in eine Halle voller Menschen platzte? Sollte sie warten, bis der Glatzköpfige die Türen öffnete? Aber wie sollte sie dann an ihm vorbei nach draußen gelangen? Was, wenn er den Laderaum betrat und ihr den Weg zur Tür versperrte?
Wie sollte sie das entscheiden? Ein falscher Schritt, ein unüberlegter Atemzug, und alles flöge auf. Es stand zu viel auf dem Spiel, um es einfach darauf ankommen zu lassen!
„Zeig mir den richtigen Moment“, betete sie. Konnte Gott nicht eine Kiste geradewegs von ihrem Stapel fallen lassen, als Zeichen, dass die Luft jetzt rein war? Mira starrte die Kartons an, während das Klopfen ihres eigenen Herzens ihr in den Ohren dröhnte. Aber nichts geschah.
Um ganz genau zu sein, überhaupt nichts. Es blieb totenstill um den Lieferwagen. Der Motor war abgestellt worden, alle Schritte, alles Scheppern, alle Geräusche waren verstummt.
Es kostete Mira eine gefühlte Ewigkeit in der beengenden, stillen Dunkelheit, um endlich ganz sicher zu sein: Sie war alleine. Jetzt oder nie musste sie es wagen, die Türen zu öffnen, um zu entkommen.
„Bitte, bitte lass sie nicht verschlossen sein!“ Mira drückte eine schwitzige Handfläche gegen das Metall, und die Tür gab unter dem Druck nach.
Im ersten Moment brannte das helle Licht mehrer Neonröhren zu sehr in Miras Augen, als dass sie sich hätte umsehen können. Dann suchte sie die Umgebung hastig mit ihren Blicken ab. Eine Lagerhalle, klein, unordentlich und verlassen.
Auf zittrigen Knien ließ Mira sich aus dem Laderaum gleiten, verschloss die Türen hinter sich und sah sich ausgiebig um. Das metallene Tor zum Hof war wieder fest verriegelt. Zwei weitere Türen mündeten in den Lagerraum. Türen, die tiefer in das Gesundheitszentrum führen mussten. Mira befand sich hinter den feindlichen Linien. Jetzt musste sie nur noch den Ort finden, an dem die Medikamente aufbewahrt wurden.
Ihre Schritte, sich öffnende und schließende Schranktüren, ihre eigenen Atemzüge − alles hallte unnatürlich und viel zu laut in Miras Ohren. Über ihrem Kopf flackerte eine Neonröhre und ließ ihre Bewegungen bizarre Schatten auf den Betonboden werfen.
Sie hatte jedes Gefühl dafür verloren, wie lange sie sich schon im staatlichen Gesundheitszentrum befand und wie viele Räume sie bereits vergeblich durchkämmt hatte, an jeder Tür mit klopfendem Herzen innehaltend und auf Stimmen auf der anderen Seite lauschend.
Mira stürzte zu einer weiteren Reihe spindähnlicher Schränke und riss mit zittrigen Fingern einige Türen und Schubladen auf. Ordentlich gefaltete Handtücher und Bettlaken stapelten sich auf den Regalbrettern, ein Sammelsurium aus offenbar ausrangiertem, staubigem Geschirr im nächsten Fach.
Warum eigentlich war sie hier unten noch niemandem begegnet? Bei dem geschäftigen Treiben, das sie durch die Fenster in den oberen Stockwerken beobachtet hatte, war es ein Wunder, dass sie noch nicht entdeckt worden war. Sie hatte das Gefühl, ihr Glück nicht überstrapazieren zu dürfen. Aber sie konnte nicht einfach gehen. Nicht ehe sie nicht wenigstens irgendetwas gefunden hatte, das Chas helfen konnte.
Mit beunruhigend laut dröhnenden Schritten hastete sie zu einer Tür und riss sie auf. Dahinter erstreckte sich im Halbdunkel ein weiterer Raum voller Schränke. Als Mira einen davon aufzog, musste sie sich die Faust auf die Lippen pressen, um keinen Triumphschrei auszustoßen. Feinsäuberlich einsortiert lagerten darin Infusionen, Tabletten, Säfte und Tinkturen. Etiketten auf den Regalböden wiesen aus, mit was sie es zu tun hatte. Mira las einige davon und versuchte, irgendwie schlau aus den medizinischen Fachbegriffen zu werden. Irgendetwas, das sie vielleicht einmal in einem Buch gelesen hatte, musste ihr doch weiterhelfen! Was wirkte fiebersenkend, desinfizierend, irgendwie kräftigend? Brauchte Chas ein Antibiotikum, und wenn ja, welches? Oder Schmerztabletten?
Ein Geräusch draußen im Lagerraum ließ Mira zusammenfahren. Sie sah sich hektisch nach einem Versteck um, aber der Raum war leer bis auf die Schränke. Ihr blieb keine Zeit!
Wie zuvor im Lieferwagen raffte sie mit beiden Händen zusammen, was sie irgendwie in ihre Taschen stopfen konnte. Schächtelchen mit Pillen oder Tinkturen, Fläschchen, Dosen, Ampullen − was sie in die Finger bekam. Sie fand sogar ein paar Rollen Verbände und Kompressen, die sie sich aus Mangel an weiterem Stauraum in den Hosenbund klemmte.
Sie schaffte es gerade noch, ihre Bluse über die verräterischen Ausbeulungen zu zerren, ehe die Tür aufgestoßen wurde.
Für einen Moment starrte der Mann im Türrahmen sie einfach nur an, und Mira starrte zurück, als wären sie sich unschlüssig, wer schockierter über den Anblick des jeweils anderen war. Dann riss Mira sich aus der Erstarrung und stürzte blindlings los.
Der Mann war so verdutzt, dass sie es beinahe an ihm vorbeigeschafft hätte. Aber nur beinahe. Im letzten Moment hechtete er zwischen sie und ihren Fluchtweg. Mira geriet ins Straucheln. Die wenigen Sekunden, die sie brauchte, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, reichten aus. Der Mann ergriff ihre Oberarme und hielt sie fest.
„Patienten haben hier unten nichts verloren.“ Er musterte Mira mit zusammengekniffenen Augen. Dann, viel ruhiger und langsamer, als würde er mit einem Kleinkind sprechen, fragte er: „Auf welche Station gehörst du denn?“
Verunsichert erwiderte Mira seinen Blick. Ihr Atem hatte sich noch nicht wieder beruhigt, und sie konnte nicht umhin, immer wieder hastig in Richtung Ausgang zu sehen.
Der Griff des Mannes um ihre Arme lockerte sich, in seinem Gesicht lag jetzt unverkennbar Besorgnis. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Hast du dich verlaufen?“ Immer noch sprach er sehr langsam.
Endlich dämmerte es Mira. Der Mann hielt sie für geistig verwirrt, für psychisch krank oder körperlich so erschöpft, dass sie nicht bei klarem Verstand war. Kein Wunder: Sie musste in ihrer Panik über sein plötzliches Auftauchen völlig wahnsinnig ausgesehen haben.
„Ähm …“, machte sie, um endlich auf seine Fragen zu reagieren. Was sollte sie sagen? Hinter ihrer Stirn jagten sich die Gedanken.
„Ich bringe dich nach oben, ja?“
„Ähm“, machte Mira noch einmal dümmlich und beschloss in Sekundenbruchteilen, dass sie mitspielen musste. Nur so konnte sie noch unbeschadet aus der Sache herauskommen. Vielleicht sogar mit den Medikamenten für Chas.
„Ich hab mich verlaufen.“ Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Alles in ihr war in Alarmbereitschaft. Dennoch gab sie sich alle Mühe, arglos und verloren auszusehen.
Während er sie am Arm aus dem Lagerraum in ein Treppenhaus führte, betrachtete Mira den Mann aus dem Augenwinkel. Er war dick, mit kräftigen Oberarmen und großen, fleischigen Händen. Den weißen Kittel eines Staatsgesundheitsbeamten trug er nicht.
„Weißt du, wie dein Pfleger heißt?“, fragte er freundlich, während er Mira die Treppe hinaufbugsierte.
„Nein.“ Es hatte keinen Sinn, einen Namen zu erfinden. Diese Tarnung würde allzu schnell auffliegen. Schneller noch als die der ahnungslosen Geistesverwirrten. „Irgendetwas mit M … oder N. Vielleicht war es auch P.