Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms. Melissa C. Feurer

Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms - Melissa C. Feurer


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seine Arme abzustreifen. Dankbar, die kühle Nachtluft wieder zu spüren, rang sie einen Moment nach Atem. „Es war nur ein Traum, Chas“, keuchte sie. „Wir sind in Sicherheit.“

      Chas’ Augen huschten hastig hin und her, als suche er nach etwas, das ihre Worte widerlegte. „Und Edmund?“

      Langsam, als würde sie mit einem Kind sprechen, sagte Mira: „Edmund ist nicht hier. Aber ich bin sicher, ihm geht es auch gut.“ Wenn das nur um alles in der Welt die Wahrheit war!

      „Und dir auch“, stellte Chas unnötigerweise fest und fuhr sich über die schweißnasse Stirn. Immer noch machte er einen desorientierten Eindruck. So verloren sah er aus, dass Mira die Arme um ihn schlang und seinen vor Fieber glühenden Körper an sich drückte.

      „Mir auch“, flüsterte sie an seiner Schulter. „Und du kommst auch wieder in Ordnung. Hörst du?“

      Chas reagierte nicht auf ihre Frage. Er ließ seine gesunde Hand fahrig ihren Rücken auf und ab wandern. Die Berührung war ihr unangenehm. Seit dem Tag ihrer Flucht aus Leonardsburg gab es immer wieder solche Momente inniger Nähe zwischen ihnen. Dabei hatten sie nie über den Kuss und das, was er eigentlich für sie bedeutete, geredet. Und diese unausgesprochene Sache machte die Vertrautheit zwischen ihnen so kompliziert.

      In seinen Fieberfantasien gefangen, schien es Chas allerdings gar nicht zu kümmern, und er hielt Mira zu fest, als dass sie ihn hätte abschütteln können. „Ich dachte … Es war nur ein Traum, ja?“

      „Ja.“

      „Aber …“ Er schluckte. „Aber wenn dir etwas passiert wäre … ich hab mich noch gar nicht richtig bedankt.“

      Wenn sein Zustand ihr nicht solche Angst gemacht hätte, hätte Mira gelacht. Morgen würde Chas sich in Grund und Boden schämen für die Dinge, die er im Fieberwahn gesagt hatte. Er war niemals rührselig, und obwohl sein Verhalten irgendwie niedlich war, war es das, was Mira am meisten alarmierte. Mehr noch als die unnatürliche Hitze, die von seinem Körper ausging, oder der glasige Blick.

      „Ich hab dir nie gesagt, dass du … du bist wundervoll“, krächzte Chas, ohne die Umarmung zu lösen.

      „Chas, nein …“ Sie musste ihn aufhalten. Sie wollte mit ihm über das sprechen, was da zwischen ihnen war. Aber doch nicht so! Er würde jedes Wort morgen bitter bereuen.

      „Doch, das bist du. Und so wunderschön. Wie … was soll ich machen, wenn dir etwas passiert? Ich kann nicht ohne dich … ich kann nicht nach Amerika gehen.“

      Endlich zog Mira sich aus seiner Umarmung zurück. „Du solltest schlafen, Chas“, sagte sie sanft, aber bestimmt. Er wusste nicht, was er da redete. Nicht nach Amerika? Der Wunsch, dieses Land zu verlassen, trieb Chas an, solange sie ihn kannte, auch wenn sie das am Anfang nicht geahnt hatte. Er wollte nach Amerika zurück, seit sein Vater, König Auttenberg, ihn während der politischen Unruhen dort in Sicherheit gebracht hatte. Nur dort würde er frei und sicher sein. Frei von den Erwartungen seines Vaters und sicher vor den Konsequenzen seiner Flucht aus dessen Residenz, seines Verrates am eigenen Land. Chas musste das Land verlassen. Das wusste Mira so gut wie er.

      „Komm schon.“ Sie zwang ihn mit sanfter Gewalt, sich wieder auf das Lager aus platt gedrückten Gerstenhalmen zu legen.

      Seine gesunde Hand hielt sie an der Bluse fest. „Bleibst du hier?“

      „Natürlich.“ Sie ließ sich widerstandslos an seine Seite ziehen, obwohl die Heftigkeit seiner Umklammerung und die Hitze seines Körpers ihr Unbehagen verursachten.

      Was geschah mit Chas? War es die Verletzung an seinem Arm, die einfach nicht heilen wollte? Hatte sie sich entzündet? Mira wusste nichts über Brandwunden, hatte keine Ahnung, ob das Fieber daher rühren konnte, und noch weniger, was zu tun war, um es zu stoppen. Woher sollte sie Medizin für Chas bekommen? Selbst wenn sie die nötigen Sonderrationskarten hätte und wüsste, welches Medikament er brauchte, konnte sie nicht einfach in ein staatliches Gesundheitszentrum gehen und es für ihn besorgen. Nicht ohne ärztliche Zustimmung. Und kein Arzt würde ihr die geben, ohne Chas zuvor angesehen zu haben. Aber Chas ansehen − das ging nicht. Er hatte kein Ausweisband, er existierte offiziell überhaupt nicht. Und das war noch besser als die andere Wahrheit. Besser ein Vergessener ohne Identität als Nicholas Auttenbergs Sohn. Der verschwundene Kronprinz. Ein Verräter.

      Miras Gedanken drehten sich im Kreis und ließen sie keinen Schlaf mehr finden. Die glühende Hitze von Chas’ verkrampftem Körper tat ihr Übriges. Sie konnte nur wieder und wieder die gleichen Überlegungen und Gedanken wälzen und lautlos beten.

      Irgendwann wurde Chas’ Atem ruhiger und sein Griff lockerer. Aber Mira machte kein Auge mehr zu.

      Am nächsten Morgen bereute Chas seine Worte nicht. Mira war sich ziemlich sicher, dass er sich nicht einmal an sie erinnerte. Zwar bekam sie ihn nach einigem Rütteln und gutem Zureden wach, doch schien er ihr sehr weit weg. Fast vermisste sie seine Ruppigkeit, mit der er jeder Art von Fürsorge begegnet war, solange sie nun schon unterwegs waren. Wenigstens hatte sie dabei den Eindruck gehabt, dass er auf dem Wege der Besserung war. Nun war er kaum ansprechbar. Er starrte nur apathisch vor sich hin, und wenn er sprach, dann mit schleppender Stimme und ohne jeden Zusammenhang.

      Mira wusste keinen anderen Weg, als den Plan, der in den vielen Stunden des Wachliegens in Chas’ fiebriger Umarmung in ihr gereift war, in die Tat umzusetzen.

      „Hör zu, ich muss dich an einen sichereren Ort bringen“, erklärte sie Chas unnötigerweise. „Weißt du noch, wir haben doch den Schrottplatz gesehen, als wir hier angekommen sind, und überlegt, dort unser Lager aufzuschlagen.“ Es schien ihn nicht großartig zu interessieren. Er lag auf der Seite wie ein verwundetes Tier, die Augen zwar geöffnet, den Blick jedoch glasig ins Nichts gerichtet oder auf irgendetwas, das nur er sehen konnte. Klein-Ararat vielleicht oder Edmund. Mira wusste es nicht.

      Es war nicht leicht, Chas in eine stehende Position zu hieven. Er war schwerer, als seine drahtige Statur vermuten ließ, und machte nicht die geringsten Anstalten, mitzuhelfen und ihr ein wenig des Gewichts abzunehmen.

      Mira erinnerte sich daran, wie sie Ari nach dem verheerenden Feuer in den Armenvierteln den ganzen Weg bis nach Klein-Ararat getragen hatte. Aber Ari war ein unterernährter Siebenjähriger. Chas dagegen überragte sie um einen halben Kopf und machte es ihr fast unmöglich, ihn aus dem Gerstenfeld zu schleifen, ohne verräterische Spuren zu hinterlassen.

      „Bitte“, keuchte Mira, als sie endlich am Rand des Feldes angekommen waren. „Bitte, Chas, du musst dich zusammenreißen. Nur für ein paar Minuten.“ Ihre Kehle brannte, und ein paar vereinzelte kalte Tränen rannen über ihr erhitztes Gesicht. „Wenn sie uns erwischen … Chas!“

      Sie drohte unter seinem Gewicht einzuknicken, als Chas’ Blick sich auf ihr verzweifelt verzogenes Gesicht fokussierte. „Nicht weinen“, krächzte er.

      Ein erleichtertes Lachen zwang sich aus Miras Kehle. Zum ersten Mal an diesem Morgen nahm Chas sie wirklich und wahrhaftig wahr. „Du musst mithelfen, Chas“, sagte sie eindringlich. „Es ist nicht weit, aber alleine schaffe ich es nicht.“

      Chas antwortete nicht, doch er setzte sich, schwer auf ihre Schultern gestützt, langsam in Bewegung. Mira sah, wie viel Mühe es ihn kostete, wie er um jeden Schritt, jeden Atemzug rang. Aber gemeinsam schafften sie es bis zu dem Platz, den Mira im Sinn hatte. Er war näher an der Stadt als ihr Lager im Gerstenfeld, aber gut geschützt und viel schneller zu erreichen. Kein vernünftiger Mensch würde einen Fuß auf das heruntergekommene Gelände voller rostiger Autowracks setzen. Zerbeulte Metallruinen mit glaslosen Fenstern und zerkratztem Lack drängten sich dicht an dicht, waren zu ganzen Türmen und Bergen angehäuft, die keinen allzu stabilen Eindruck machten.

      Obwohl sie unter Chas’ Gewicht alle Kraft für den Rest des Weges brauchte, konnte Mira nicht umhin, die plumpen Fahrzeuge neugierig zu betrachten. Kaum zu glauben, dass früher nahezu jede Familie, wenn nicht jeder Mensch, ein solches Ungetüm besessen hatte und damit herumgefahren war. Weite Strecken sogar, weiter, als sie je in ihrem Leben gereist war, weiter als die Grenzen ihres Landes.

      Nach


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