Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms. Melissa C. Feurer

Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms - Melissa C. Feurer


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die auf den Vorplatz hinausführten. Den ganzen Tag über hatte sie die Eingänge von außen betrachtet und überlegt, wie sie hineinkommen sollte. Jetzt hätte sie einiges dafür gegeben, wieder dort draußen zu sein. Mit den Medikamenten natürlich.

      Der Dicke schob sie behutsam weiter. „Das werden wir gleich haben“, versicherte er. „He! Ihr da, macht euch hier mal nützlich!“

      Miras Herz setzte einen Schlag aus. Auf den Ruf ihres Begleiters hin traten zwei Wachmänner aus einer Nische bei den Türen und eilten zu ihnen.

      „Wir brauchen jemanden mit einem Scanner. Die junge Dame hier hat sich verlaufen und findet ihre Station nicht mehr.“

      Miras rechte Hand umschloss fast automatisch das Band an ihrem linken Handgelenk. Sie wollte einen Schritt zurückmachen, stieß aber gegen den Bauch des Mannes, der sie heraufgebracht hatte.

      Die Wachmänner musterten sie. Einer der beiden hatte so stechend blaue Augen, dass Mira das Gefühl hatte, von seinem Blick regelrecht durchleuchtet zu werden.

      „Sind Sie völlig bescheuert?“, blaffte er den Mann hinter Mira an. „Das ist keine Patientin. Sie trägt ja Straßenkleidung. Schmutzige noch dazu.“ Seine Hand schnellte nach vorne und entriss Mira dem fürsorglichen Griff des Dicken. „Was hast du hier drinnen zu suchen, hm?“ Schmerzhaft zerrte er an ihren Armen und drehte die Handflächen nach oben. „Einen Besucherstempel hast du auch nicht. Wie bist du hier hereingekommen? Los, spuck es aus!“

      „Aber, aber“, fuhr der Mann hinter Mira dazwischen, ehe diese antworten konnte. „Das ist doch kein Grund, so grob zu werden.“

      „Wer hat dich gefragt? Was bist du? Eine Putzkraft? Lagerarbeiter?“ Er schnaubte. „Geh wieder an deine Arbeit und lass mich meine machen. Du bist wohl zu blöd, um eins und eins zusammenzuzählen. Die Kleine ist hier eingebrochen. Wir nehmen sie mit.“

      Nun konnte Mira nicht mehr an sich halten. Sie vergaß sogar ganz, dass sie eben noch harmlos und verwirrt hatte wirken wollen. „Nein!“ Sie entriss ihre Arme dem Griff des Wachmanns und rannte blindlings auf die Türen zu. Der dicke Mann war so verdutzt von dieser plötzlichen Anwandlung, dass auch er sie einfach losließ.

      Sie konnte kaum fassen, dass sie die Türen wirklich erreichte. Waren die Wachmänner so langsam oder sie in ihrer Panik so schnell? Sie hatte keine Zeit, sich umzusehen. Mit beiden Händen packte sie die Türgriffe und schob. Hinter ihr lachte einer der Wachmänner. Ihre Tatenlosigkeit machte schlagartig Sinn. Die Türen waren verschlossen.

      „Nein!“, brüllte Mira erneut. Sie holte mit dem Fuß aus, um das Glas notfalls zu Bruch zu bringen. Sie musste zu Chas, musste einfach. Er brauchte Hilfe, brauchte sie! Seine im Fieberwahn gesprochenen Worte hallten ihr noch in den Ohren. Was, wenn ihr etwas zustieße? Was würde dann aus ihm werden?

      Ehe ihr Fuß das Glas traf, hatten die beiden Wachmänner sie nun doch erreicht. Sie banden ihr die Hände auf dem Rücken zusammen und stopften ihr aus Mangel an Alternativen ein Knäuel Taschentücher in den Mund.

      „Wir bringen sie in die Staatsjustiz. Die sollen sie einsperren, bis sie sich beruhigt hat.“

      „Was, wenn noch mehr von ihnen eingedrungen sind?“, fragte der andere Wachmann.

      „Ich gebe Durchsuchungsbefehl. Haltet alle Ausgänge verschlossen“, wies er den dicken Mann an, der immer noch regungslos an den Türen zum Treppenhaus stand.

      „Aber …“, stammelte er. „Meine Güte, ich verstehe nicht, warum man in ein staatliches Gesundheitszentrum einbrechen sollte. Sie ist nicht einmal eine Illegale.“ Er nickte zu Miras gefesselten Händen. „Sie hat ein Armband.“

      „Das ist nicht deine Sorge. Das sollen die Justizleute herausfinden“, erwiderte einer der Wachmänner, ohne Mira aus den Augen zu lassen. „Aus dem Mädchen bringst du heute kein Geständnis mehr heraus. Die ist ja völlig außer sich.“ Er betätigte einen Schalter rechts der Türen, und mit einem leisen Surren schoben sie sich auf. So einfach. Mira hätte sich ohrfeigen können.

      Den ganzen Weg über den Vorplatz und schließlich die Straße hinab wand sie sich in ihren Fesseln und trat nach den beiden Wachmännern. Sie versuchte trotz des Knebels zu schreien und jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Sie machte es den beiden so schwer, sie mit sich zu zerren, dass einer von ihnen sie kurzerhand wie einen Sack Kartoffeln auf die Schulter hievte und sie trug. Ein Teil ihrer kostbaren Schmuggelware rutschte aus seinem Versteck und fiel zu Boden. Mira rechnete damit, dass die Wachmänner sie nun durchsuchen und ihr all ihr Diebesgut abnehmen würden, doch sie hatten es noch nicht einmal bemerkt. Hoffentlich war das verlorene Medikament nicht ausgerechnet dasjenige, das Chas brauchte.

      Abermals bäumte Mira sich gegen ihre Fesseln auf. Nicht einmal die verbleibenden Packungen in ihren Taschen würden Chas helfen, wenn sie nicht freikäme, um sie ihm zu bringen.

      Also kämpfte Mira weiter. Die Fesseln schnitten in ihre Handgelenke, und durch die Taschentücher in ihrem Mund bekam sie kaum noch Luft, doch sie ließ nicht locker. Sie musste zurück zu Chas. Ob mit oder ohne Medikamente, alleine hatte er keine Chance. Sie hatte ihn gut versteckt. Zu gut. Auf dem Autofriedhof würde niemand ihn finden. Niemand könnte ihm helfen.

      Dass sie das Staatsjustizgebäude erreicht hatten, bemerkte Mira erst, als der Wachmann, der sie getragen hatte, sie unsanft direkt vor dessen Eingangstür absetzte. „Und jetzt ist Schluss mit dem Theater“, knurrte er und zog sie mit sich hinein. Dann vermeldete er: „Einbruch im Staatsgesundheitszentrum.“

      Es musste kurz nach Ausgangssperre sein. Nur eine einzige Wachfrau saß im Justizgebäude und sortierte Unterlagen.

      „Sperrt sie zu den anderen“, erwiderte sie mit einem flüchtigen Blick auf Mira gelangweilt. „Wir kümmern uns morgen darum.“

      „Sie hat ein Armband.“

      „Das hat sie morgen auch noch. Wir kümmern uns darum.“

      „Sollten wir nicht ihre Identität …“

      „Bei der Verfassung!“ Die Wachfrau knallte die Unterlagen auf die Tischplatte. „Nun sperrt sie schon ein. Und nehmt ihr den Knebel ab, ehe sie daran erstickt. Sie ist schon ganz rot.“

      Die Wachmänner erwiderten nichts. Eine Tür wurde aufgeschlossen und Mira hindurchgeschubst. Ohne dass jemand ihre Fessel durchschnitt oder die Taschentücher aus ihrem Mund entfernte, knallte die Tür hinter ihr ins Schloss.

      Mira wollte sich gerade dagegenwerfen, als im Dunkel hinter ihr Gemurmel laut wurde.

      „… noch jemanden gebracht.“

      „Ein Mädchen.“

      „Sie ist geknebelt.“

      Ein Paar weicher Hände nahm ihr den Knebel aus dem Mund und versuchte, sie festzuhalten. Aber Mira stieß sie von sich.

      „Chas!“, keuchte sie erstickt, schnappte nach Luft und verschluckte sich. „Chas … ich muss … er stirbt!“, brachte sie zwischen Husten hervor. Sie wand sich aus einem zweiten Paar Hände − größer und rauer als das erste − und warf sich gegen die Tür. „Lasst mich raus!“ Sie versuchte einzuatmen, aber das Husten machte es ihr unmöglich. Stoßweise sog sie zwischen den unkontrollierten Kontraktionen ihres Brustkorbes den Sauerstoff in ihre Lungen, bekam aber trotz aller Mühe nicht genug. Wieder und wieder warf sie ihren ganzen Körper gegen die Tür, doch dann gaben ihre Beine nach, versagten ihr einfach den Dienst, und sie sackte schwer und immer noch nach Luft schnappend auf den Boden.

      „Ist okay.“ Die weichen Hände waren wieder da. Sie strichen über ihr Haar. Mira ließ es zu. Alle Kraft hatte sie verlassen.

      Wie hatte sie nur so dumm sein können, sich erwischen zu lassen? Wie hatte sie so unvorsichtig sein können, während Chas in seinem Versteck gegen den Fieberwahn ankämpfte? Ob er in seinen Albträumen wieder das brennende Klein-Ararat besuchte? Der Gedanke brach Mira das Herz.

      „Mira“, sagte eine Stimme über ihr leise. „Was ist mit Chas?“

      Immer noch um Luft ringend,


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