Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms. Melissa C. Feurer

Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms - Melissa C. Feurer


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zu wollen − meistens noch ein bisschen mehr.“

      Fassungslos ließ Mira ihren Blick hinüber zu Biene gleiten, die stumm an der Seite ihres Freundes saß. Wie hatte sie die beiden unterschätzt! Natürlich hatte sie schnell gemerkt, dass sie die Außenstadt von Leonardsburg kannten wie ihre Hemdtaschen. Auch dass Urs dort ausgezeichnete Verbindungen hatte, war kein Geheimnis gewesen. Aber dass er und die zart wirkende Biene neben den Fischerkindern noch einer zweiten illegalen Kleinstgruppe angehört hatten, und das die ganze Zeit schon, konnte sie einfach nicht glauben.

      „Tatsache ist jedenfalls, dass nur Urs oder ich Hilfe von den Rebellen in Cem erwarten können“, fasste Biene zusammen.

      „Und wir können uns da drinnen genauso wenig noch einmal blicken lassen wie Mira. Das ist ja wohl allen klar.“

      „Na ja“, erwiderte Biene jedoch, und im Dunkeln funkelten ihre Augen so geheimnisvoll, dass Mira sich für den Bruchteil einer Sekunde doch vorstellen konnte, dass sie eine waschechte Rebellin war. „Das kommt darauf an.“

      „Ganz habe ich die Flecken nie herausbekommen.“ Mira strich über den feinen Stoff ihrer Bluse. An Biene saß sie lockerer, aber das merkte man kaum. „Es sind dieselben Kleider, die ich während des Angriffs auf Klein-Ararat getragen habe.“ Beim Klettern an Felswänden, beim Robben über den staubigen Boden und einmal sogar beim Verstecken in einem modrigen Wasserrohr am Feldrand. Ein Wunder, dass die Bluse überhaupt noch ihren ursprünglichen Weißton hatte!

      „Ach was.“ Auch Biene strich über die Bluse und sah an sich herab. „Jeder kann sehen, dass es Innenstädterkleider sind. Niemand aus den Armenvierteln hat Kleidung aus so feinem, hellem Stoff! Keiner wird die Flecken bemerken.“

      „Großartig, dass du so optimistisch bist“, knurrte Urs. Er und Chas hatten sich höflich weggedreht, als Biene und Mira die Kleider getauscht hatten, aber jetzt starrte er Biene unverhohlen und ganz und gar nicht begeistert an.

      „Dein Messer“, erinnerte ihn Mira. Sie hatten die Sache ein Dutzend Mal diskutiert. Sie wollte sich nicht auf eine erneute Debatte mit Urs einlassen. Biene hatte sich entschieden, und Mira fand ihren Plan gut. Sich zu verkleiden war einfach, aber wirkungsvoll.

      Urs zog sein Taschenmesser hervor und reichte es Mira. „Du bist ganz sicher?“

      „Klar. Oder hast du etwa schon einmal eine Innenstädterin mit einer derartigen Mähne gesehen?“ Bienes Stimme zitterte leicht, genauso wie Miras Hände, als sie das Messer an einer von Bienes schulterlangen Haarsträhnen ansetzte. Sie schlang sie zu einer Schlaufe um die Klinge, und mit einem kurzen, kräftigen Ruck durchtrennte sie sie.

      Keiner von ihnen sprach, während Mira arbeitete. Irgendwann hörten ihre Hände auf zu zittern, und Bienes Atemzüge wurden gleichmäßiger. Vielleicht war es gut, dass sie immer noch im Halbdunkel saßen. Jedenfalls war Mira am Ende recht zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Arbeit.

      „Wie eine echte Innenstädterin“, befand sie und lächelte Biene zu. Deren Blick jedoch huschte schnell weiter zu Urs.

      „Gefällt es dir?“, fragte sie zaghaft.

      Urs streckte die Hand aus und berührte eine der blonden Strähnen, deren Spitzen nun oberhalb von Bienes Wangenknochen endeten. Wie die jedes anständigen, staatskonformen Bürgers. „Ich fand dein langes Haar schön.“ Er ließ die Strähne los, und Biene nickte. Vermutlich war nun auch sie dankbar für das Halbdunkel. Wortlos wandte sie sich ab.

      „Du siehst toll aus“, versicherte Mira, deren Worte Urs’ abweisende Reaktion wohl kaum aufwiegen konnten. „Kaum wiederzuerkennen. Und das ist doch der Sinn der Sache. Dass du sicher bist.“

      „Am sichersten wäre es, sie bliebe hier“, brummte Urs, aber niemand ging darauf ein. Es war beschlossene Sache: Biene würde in die Stadt und zu den dort lebenden Rebellen gehen. Wenn alles gut ging, wäre sie noch vor Beginn der Ausgangssperre zurück. Sie würden in ihrem Versteck ihre erste richtige Mahlzeit seit einer gefühlten Ewigkeit einnehmen, sich noch ein paar Stunden Schlaf gönnen und im Morgengrauen aufbrechen. Wenn alles gut ging.

       Kapitel 6

       In Flammen

      Urs litt. Er hatte Biene nach draußen gebracht, und noch lange nachdem sie gegangen war, hatten Mira und Chas ihn auf dem freien Platz auf und ab laufen hören. Irgendwann, als die Sonne schon beinahe untergegangen war, war er wieder zu ihnen in das Innere des verschütteten Wagens geklettert. In der Dunkelheit, die mittlerweile hier drinnen herrschte, hatte er sich wortlos in den Kofferraum gesetzt und sich von dort nicht mehr wegbewegt.

      Und nun warteten sie. Urs starrte durch das fehlende Heckfenster und ruckte unwillig mit dem Kopf, wenn einer von ihnen ein Geräusch verursachte, das ihn aus seinem angestrengten Lauschen riss. Deshalb schwiegen Chas und Mira, und nur hin und wieder kommunizierten sie lautlos − zuerst mit Blicken und, als es dafür zu dunkel wurde, durch eine rasche Berührung ihrer Hände, wann immer sie etwas zu hören glaubten.

      Sie hatten keine Uhr, und ihr Zeitgefühl mochte sie trügen, aber es musste bereits nach Anbruch der Ausgangssperre sein. Biene hätte längst zurück sein müssen.

      „Vielleicht musste sie bei den Rebellen in Cem untertauchen“, flüsterte Mira, weil sie es nicht ertragen konnte, Urs länger untätig zuzusehen.

      Chas’ Finger streiften ihren Handrücken, und wenn Mira nicht alles täuschte, bedeutete seine Berührung dieses Mal: „Lass gut sein.“

      Mira stieß die Luft aus. Natürlich hatte Chas recht: Ihre Worte waren leer und halfen Urs nicht weiter. Seine Freundin war möglicherweise in Gefahr, und er konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Aus jüngster Erfahrung wusste Mira ganz genau, wie sich solch erzwungene Tatenlosigkeit anfühlte. Alles war erträglich gewesen, solange sie etwas hatte tun können − sich in die Stadt schleichen, in das staatliche Gesundheitszentrum einbrechen. Auch wenn es nur verzweifelte Versuche gewesen waren, Chas zu helfen, hatten sie Mira beschäftigt gehalten, Körper und Geist funktionieren lassen, weil sie noch gebraucht wurde. Aber im Gefängnis, als sie zum Stillstand verdammt gewesen war, da waren bei ihr sämtliche Sicherungen durchgebrannt.

      Kurz vor diesem Punkt stand Urs. Mira fühlte seine Anspannung, als läge sie greifbar in der Luft. So wie manchmal die innige Verbundenheit zwischen Urs und Biene greifbar war, wenn sie einander ansahen, im Arm hielten oder nur stumm nebeneinandersaßen. Mira hatte nie zwei Menschen gesehen, deren Leben, ja deren ganze Wesen so untrennbar miteinander verwoben waren. Was würde mit Urs geschehen, wenn Biene nicht zurückkäme?

      „Du wirst nicht in die Stadt gehen, oder?“, fragte sie leise.

      Urs drehte ihr flüchtig den Kopf zu, dann starrte er wieder aus dem Heckfenster.

      „Nicht vor dem Morgen jedenfalls“, setzte Mira hinzu. „Du bist Biene keine Hilfe, wenn sie dich während der Ausgangssperre draußen erwischen.“

      „Hier bin ich ihr auch keine Hilfe“, knurrte Urs.

      „Wenn sie bis Sonnenaufgang nicht zurück ist …“ Mira schluckte. Urs würde nicht bis Sonnenaufgang warten. Und wie könnten sie es von ihm erwarten? Er liebte Biene, er konnte sie einfach nicht verlieren. „Lass uns noch eine Weile warten“, flüsterte Mira. „Dann können wir …“

      „Still!“ Urs hob die Hand, und als Mira verstummte, hörte sie es auch. Hastige Schritte draußen auf dem Schrottplatz.

      „Warte“, raunte Chas. „Es könnten auch Wachen sein.“

      Aber Urs hatte sich bereits durch das Heckfenster geschoben und begann, den Fluchttunnel emporzuklettern. Seine übliche Vorsicht und Selbstbeherrschung waren wie weggewischt.

      Mira schloss ihre Hand um Chas’ Finger und lauschte. „Urs!“, ertönte endlich eine Stimme. Eindeutig die von Biene. Aber Mira wollte kein Stein vom Herzen fallen. Zu deutlich schwang die Angst in Bienes atemlosen Ruf mit.

      „Ihr müsst euch das ansehen!


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