Süßer die Schellen nie klingen!. Michael Schlinck

Süßer die Schellen nie klingen! - Michael Schlinck


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in den Armen meiner Frau gelandet, die mich den Umständen entsprechend weich aufgefangen hatte. Mein Sohn Maik hatte es weniger gut erwischt, er war mit voller Wucht gegen den Kopf seiner Schwester geknallt. Die war natürlich auf ihren fliegenden Bruder nicht gefasst gewesen und hatte ihn unter wilden Flüchen von sich geschleudert. Die ganze Aktion war für den Familienfrieden nicht gerade zuträglich gewesen, woraufhin Quenni ihrem Ärger ordentlich Luft machte. Da sich auch keiner der anderen Insassen erklären konnte, was diese Notbremsung ausgelöst haben könnte, fasste ich eben den Entschluss, hier draußen nachzusehen, was eigentlich los sei.

      Wer ich bin? Entschuldigen Sie, mein Name ist Schlempert. Dieter Schlempert. Meines Zeichens Kriminaloberkommissar. Ich arbeite für die Polizei und leite die Dienststelle in Neustadt an der Weinstraße. Ein stressiger Job, den ich nie haben wollte und ihn trotzdem bekommen habe.

      Und da liegt er nun, der Oberkommissar, nachdem er kopfüber mehrere Meter nach unten gepurzelt ist. Wieder auf den Beinen, verschaffe ich mir erst einmal einen Überblick und klopfe mir den Staub aus der Hose. Circa acht Meter vor mir, auf dem Bahndamm, steht er nun, der Zug. Eine ganz normale Regionalbahn, wie sie eben auf der Strecke zwischen Neustadt an der Weinstraße und Karlsruhe eingesetzt wird. Der Dieselmotor läuft im Leerlauf, die Fenster sind hell erleuchtet und im Innenraum kann man die Köpfe der Fahrgäste erkennen. Natalie scheint gerade damit beschäftigt zu sein, eine ältere Dame zu beruhigen. Die Scheinwerfer des Triebwagens leuchten die Gleise in Fahrtrichtung Karlsruhe aus, auf denen ich nichts erkenne, was die Notbremsung ausgelöst haben könnte. Um der Sache auf den Grund zu gehen, beschließe ich den Bahndamm wieder hochzuklettern.

      Am Zug angekommen, ist es zu meinen Füßen immer noch stockfinster. Durch die Fenster strahlt das Licht so ungünstig, dass der Bahndamm gänzlich im Dunkeln liegt. Nun wäre eine Taschenlampe von Vorteil. Moment! Da fällt mir doch ein, dass mir Maik so eine App aufs Handy geladen hat, die aus dem Blitzlicht der Kamera eine Taschenlampe werden lässt. Ein paar Klicks später ist es zu meinen Füßen taghell. Nun erkenne ich auch etwas Dunkles, Blutverschmiertes vor mir. Da in der Kälte davon Dampf aufsteigt, nehme ich an, dass es sich um frische Eingeweide handelt. Dies erklärt auch unseren Halt auf freier Strecke. Also ein Zusammenstoß mit Wildgetier. Jetzt in der Vorweihnachtszeit fällt mir natürlich zuerst Rudolph das Rentier mit der roten Nase ein. Allerdings hier, so nahe am Bienwald, sollte es doch eher Rotwild gewesen sein, das mit dem Zug kollidiert ist. Um mich zu vergewissern, gehe ich etwas vor den Triebwagen. Wie zu erwarten war, ist die linke Seite der Lok mit Blut und Magen- sowie Darminhalt verschmiert.

      Das linke Scheinwerferglas ist zerschlagen und im Gehäuse befindet sich ein Stück blutverschmiertes Fell. Oder? Nein, es ist ein abgerissenes Ohr. Allerdings keines von Rotwild, die tragen nämlich keine Ohrringe. Das hier ist ein menschliches Ohr. Schlagartig wird mir klar, dass wir da drinnen im Warmen »Stein, Schere, Papier« gespielt haben, während hier draußen in der Kälte ein Mensch gestorben ist.

      „Hey Baba, was ist hier draußen los?“, höre ich die Stimmen meiner Kinder, die im Begriff sind, den Zug zu verlassen.

      „Sofort wieder rein!“ So hysterisch kenne ich mich gar nicht. Allerdings ist meine Angst vor traumatisierten Kindern so groß, dass ich die beiden nun ohne weitere Erklärungen barsch zurück in den Zug scheuche.

      Erstaunlich, wie viel Licht so ein Handy erzeugen kann. Aber im Moment wäre es mir wohl lieber, wenn es nicht leuchten würde, denn was ich so nach und nach in seinem Lichtkegel zu sehen bekomme, sind Bilder, auf die ich gerne verzichten könnte. Am Abhang verteilt, finde ich immer mehr menschliche Fetzen. Als ich dicht bei den Gleisen das abgetrennte Haupt mit aufgerissenen Augen entdecke, schaff ich es gerade noch mit Mühe meinen Kopf zur Seite zu drehen, bevor sich mein Magen plätschernd über meine Füße entleert. Wieso passiert mir das auch immer wieder? Anscheinend werde ich mich nie an diese unangenehme Seite meines Berufes gewöhnen.

      Benommen verwandele ich meine Taschenlampe zurück zum Mobiltelefon. In einem Automatismus rufe ich aus dem Speicher die Nummer meines jungen Kollegen Timo Gebauer auf und bestätige sie mit der grünen Taste. Obwohl sich auch Timo schon längst im Feierabend befindet, ist er noch vorm zweiten Klingeln am Telefon.

      „Na Dieter, bist du noch beim Kinderpunsch oder genehmigst du dir schon einen Karlsruher Glühwein?“, trällert er fröhlich in die Leitung.

      „Tttot“, beginne ich zu stottern, „zzzerfetzt“, höre ich mich noch sagen, bevor sich ein weiterer Schwall Mageninhalt vor mich ergießt.

      „Langsam, Dieter, ganz langsam, was ist los bei dir?“, nun ist es meinem Kollegen nicht mehr zum Scherzen zumute.

      „Vom Zug erfasst“, werden meine Sätze nun wieder länger, „vermutlich ein Farbiger. Irgendwo auf dem Bahndamm zwischen Rohrbach und Kandel.“

      „Okay, Dieter, ich schicke dir die Kollegen vom Streifendienst. Beruhige dich, ich komm auch hin, okay?“

      Ohne weitere Worte drücke ich den roten Knopf. Im Stockdunkeln starre ich in die Richtung, in der der Kopf liegt. In meinen Gedanken schaut er mir direkt in meine Augen. Deutlich kann ich spüren, wie der Restinhalt meines Magens sich nun wieder den Weg durch die Speiseröhre in meinen Kopf sucht. Während ich mir mit meinem Ärmel über den Mund wische, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Auch ohne mich umzuschauen weiß ich, dass es sich um die Hand meiner Frau handelt, die mich berührt.

      „Dieter, wir brauchen dich da drinnen“, sagt sie mit ruhiger, fester Stimme.

      „Ich wüsste nicht, was ich drinnen tun könnte. Ich weiß nicht, was ich hier überhaupt tun könnte. Ich wollte, wir wären überhaupt nicht hier, Schatz.“ Nur mit Mühe kann ich die Tränen unterdrücken.

      Da bin ich nun Dienststellenleiter und kann den Anblick einer Leiche nicht ertragen. Ich weiß nicht, wie das die Fernsehkommissare machen, die stolzieren durch den Tatort und achten dabei cool auf jedes erdenkliche Detail. Also mir geht es immer noch nahe, wenn ein Mensch sein Leben lässt. Ich sollte üben auszublenden, dass die Leichen auch ein Leben hatten. Auch dass sie sicher eine Familie hatten und vielleicht sogar Kinder hinterlassen, sollte mich keinesfalls in meiner Objektivität beeinflussen.

      Das sind alles Sprüche unseres Betriebspsychologen, bei dem wir regelmäßig zur Supervision müssen. Pah, Psychologen, die haben gut reden, sitzen zu Hause am Kamin und ich habe hier die Sauerei.

      „Komm, Dieter, der Lokführer sieht überhaupt nicht gut aus“, reißt Natalie mich aus meinen Gedanken, „rede du bitte einmal mit ihm.“

      Hinter der verschlossenen Tür zum Fahrerstand sitzt ein großgewachsener Mann, ein Kerl wie ein Bär, um die zwei Meter hoch und sicher einhundertfünfzig Kilo schwer, würde ich sagen. Das kreidebleiche, schweißgebadete Gesicht will allerdings nicht so recht zu dem Sumoringertyp passen. Auf mein Klopfen hin reagiert er nicht. Einen Türdrücker suche ich vergeblich, was kein Wunder ist, wenn man so hört, was mancher Lokführer schon so über sich ergehen lassen musste. Da ist es ja nur logisch, dass die Tür zum Fahrerstand nur von innen zu öffnen ist. Jetzt wäre es allerdings wünschenswert, wenn ich zu dem apathisch dreinschauenden Mann vordringen könnte.

      Mit lauter Stimme versuche ich ihn zum Öffnen der Tür zu bewegen. Doch noch immer starrt er auf die blutverschmierte Frontscheibe. Gut kann ich mir vorstellen, was sich in seinem Kopf abspielt. Plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht ein menschlicher Körper aus der Dunkelheit auf, innerhalb eines Sekundenbruchteils klatscht es und du kannst dabei zuschauen, wie es den Körper in Stücke reißt. Was dieser Mann gesehen hat, möchte ich niemandem im Detail zumuten.

      „Ich weiß, dass Sie schreckliche Dinge gesehen haben“, versuche ich die Flucht nach vorne, „bitte öffnen Sie die Tür, damit wir reden können.“

      Irgendwie scheinen meine Bemühungen Früchte zu tragen, denn langsam, fast wie in Zeitlupe, dreht sich der stämmige Mann samt Sitz in meine Richtung. Von vorne sieht er noch schlimmer aus, als ich es vermutet hatte. Was will ich auch erwarten, schließlich hat er vor wenigen Minuten den Tod persönlich gesehen.

      Ganz langsam hebt er die ebenfalls kreidebleiche, schweißnasse Hand an, um sie dann auf die Türklinke fallen zu lassen. Da sich die Tür nun öffnet, kann ich viel


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