Süßer die Schellen nie klingen!. Michael Schlinck

Süßer die Schellen nie klingen! - Michael Schlinck


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verständlich zu flüstern, „ich will nicht mehr. Das war bereits der Dritte.“ Mit diesen Worten beginnt der Kleiderschrank von einem Mann bitterlich zu weinen. Im Affekt nehme ich seinen Kopf, um ihn an meine Schulter zu betten.

      Jetzt erst fällt mir der säuerliche Geruch in der Fahrerkabine auf. Beim Blick auf seine Schuhe wird mir schlagartig klar, dass auch er seinen Mageninhalt nicht bei sich behalten konnte.

      Etwa zehn Minuten sind noch vergangen, bis der einsame Bahndamm zum Leben erwachte. Inzwischen suchen etwa ein Dutzend Schutzpolizisten mit Strahlern den Bahndamm ab. Sanitäter kümmern sich um die Blessuren der Fahrgäste, Fahrzeuge der Feuerwehr leuchten vom benachbarten Wirtschaftsweg den Bahnabschnitt aus und in der Fahrerkabine kümmert sich ein bahneigener Psychologe um unseren Lokführer.

      Draußen sind auch zwei Reisebusse vorgefahren, um die Fahrgäste nach Karlsruhe zu bringen. Die Evakuierung findet selbstverständlich über die in Fahrtrichtung rechte, also die blutfreie Seite des Zuges statt.

      Wer nun noch fehlt, ist Timo, der uns doch abholen wollte. Meine Kinder habe ich in dem Glauben gelassen, dass der Zug mit einem Wildtier zusammengestoßen wäre. Sie spielen wieder »Stein, Schere, Papier«, wobei ich beobachten kann, wie Maik seine Schwester besiegt.

      „Scheiß Psychokasper!“, schreit plötzlich der Zugführer, der anscheinend wieder zu Kräften gekommen ist. „Ohne euch wäre ich inzwischen umgeschult oder pensioniert. Aber nein, ich musste ja wieder auf den Bock, so wie ein Kind, das vom Pferd gefallen ist. Ihr scheiß Fachidioten solltet euch so lange ins Führerhaus setzten, bis ihr wisst, wovon ihr redet.“

      Ich kann ihn gut verstehen, auch ich werde noch lange an den Dingen zu kauen haben, die ich da draußen gesehen habe.

      Nun wäre es an der Zeit, einmal was Angenehmes zu sehen, das mir auch genau in diesem Augenblick gelingt. Auf dem Wirtschaftsweg kommt der Dienstwagen von Timo gefahren, gefolgt von einem weiteren mir bekannten Auto. Es ist das Auto von Martin Schneider, einem Spurensicherer, mit dem ich seit langer Zeit befreundet bin. Zweimal habe ich schon in seinem Ferienhaus in Gossersweiler-Stein gewohnt. Aber das sind andere Geschichten. Wenige Sekunden später befinde ich mich auf dem Weg zu meinen Kollegen, um sie zu begrüßen.

      „Sorry Dieter, es wurde etwas später“, begrüßt mich Timo, „ich habe in Kandel noch auf Martin gewartet, da er hier nicht besonders ortskundig ist.“

      „Ja Martin“, gebe ich mich überrascht, „ich freue mich dich zu sehen, aber das ist doch kein Fall für die Spurensicherung, offensichtlich handelt es sich doch um einen Suizid.“

      „Eben, mein lieber Dieter“, entgegnet mir der Martin fröhlich, „das Wort Selbstmord beinhaltet schließlich das Wort Mord und da werden wir eben automatisch verständigt. Deshalb werde ich mich auch gleich an die Arbeit machen. Wollen wir noch Pizza essen gehen, wenn ich fertig bin?“

      „Nein Martin, beim besten Willen nicht. Zum ersten hat das »La Rusticana« geschlossen und zum anderen ist das, was du gleich zu sehen bekommst, alles andere als appetitanregend. Ich will nur noch mit meiner Familie nach Hause.“

      „Du weißt doch, dass mir nichts den Appetit verschlagen kann, dazu habe ich schon zu viel gesehen. Aber wenn dir dein schwacher Magen zu schaffen macht, dann sei dir verziehen.“

      Dies klingt zwar nicht nach einer Verabschiedung, sollte aber eine gewesen sein, denn Martin geht inzwischen mit seinem Koffer in Richtung Zug.

      Also, der Weihnachtsmarkt ist nun auch passé, weshalb ich Timo darum bitte, mich und meine Familie nach Waldrohrbach, zu unserem alten Bauernhäuschen zu bringen.

      „Ich hole dich morgen früh gegen halb acht ab“, sagt Timo, als er uns in unserem Hof absetzt, was ich mit einem fragenden Blick beantworte.

      „Na, euer Familienvan steht nicht auf seinem Platz unter der Überdachung, was mich als Polizist sofort zu der Annahme bringt, dass dieser in Landau am Bahnhof parkt.“ Womit er auch richtig liegt.

      Wir gehen ins Haus. Während Natalie mit den Kindern noch etwas spielt, bleib ich im Keller und bearbeite viel zu laut meine Gitarre, was meinem Gehör sicher weiteren Schaden zufügt, aber die Nerven beruhigt.

       Besuch beim Doktor Kleinhardt

      Heute, am frühen Montagmorgen, sitze ich ohne Frühstück im Bauch im Büro hinter einem Aktenberg. Timo hatte mich pünktlich abgeholt und davon überzeugt, dass mir die Abwechslung im Büro etwas gut tun würde. Einen Fall für die Mordabteilung gibt es zurzeit glücklicherweise nicht. Zumindest kann ich ja zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass es den eigentlich schon gibt. Aber schön der Reihe nach:

      Da wir also kein Kapitalverbrechen aufklären müssen, haben wir uns der Abteilung »Organisiertes Verbrechen« zur Unterstützung angeschlossen. Die beißen sich derzeit an einer Einbruchsserie die Zähne aus. In den letzten zwei Wochen wurden im Umkreis täglich gut situierte Menschen brutalst ausgeraubt, immer nach dem gleichen Muster: Die drei vermummten Täter überfallen ihre Opfer, während diese gerade ihr Haus betreten. Einmal im Gebäude, fordern sie unter Androhung von Gewalt und mit vorgehaltener Waffe Geld und Wertgegenstände. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schlagen sie dann auch gerne einmal heftig zu. Einige der meist im Rentenalter befindlichen Opfer mussten sogar stationär im Krankenhaus behandelt werden. Das Fluchtfahrzeug, ein dunkelgrauer Van, wird immer erst kurz vor den Überfällen mit frisch gestohlenen Kennzeichen versehen.

      Ich finde es schrecklich, mich durch einen Aktenberg zu kämpfen. Ich schreibe und lese nicht gerne, eine Buchhandlung betrete ich höchstens aus ermittlungstechnischen Gründen. Den Schreibkram im Büro erledigt glücklicherweise mein Kollege Timo. Vor ein paar Monaten wurde er dabei noch von Laura Schmitt unterstützt, die wir eigentlich immer Lara, nach der Lara Croft, aus dem Computerspiel Tomb Raider nannten. Wenn es ein lebendes Ebenbild der Computeramazone gab, dann war es Laura. Immer sportlich und figurbetont war sie gekleidet. Topfit und durchtrainiert, ohne nur ein Gramm sichtbaren Fetts. Sie hatte immer, wirklich immer, die Dienstwaffe am Körper. Ich glaube manchmal, dass sie ihre Knarre selbst unter der Dusche trug. Allerdings hatte sie zwischenzeitlich den Polizeidienst quittiert, um für die Gerechtigkeit im Dienste der Fremdenlegion zu kämpfen. Dort hat es ihr beim ersten Einsatz beide Beine abgerissen. So habe ich beim zuständigen Innenministerium Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie wieder in mein Team zu bekommen. Nun sitzt sie in meinem Büro an ihrem Arbeitsplatz. Ich habe auch schon einen Aufzug beantragt, um unsere Dienststelle behindertengerecht zu gestalten.

      Da ich nun der Meinung bin, etwas frische Luft zu benötigen und mein Dienstwagen zu Hause im Hof parkt, beauftrage ich Timo, mich ins Städtische Klinikum zu fahren. Dort möchte ich gerne mit einem der Überfallopfer persönlich sprechen. Timo kann bei der Gelegenheit auch gleich den von mir ungeliebten Schreibkram übernehmen und Protokoll führen. Eigentlich ist ja Timo mein offizieller Vertreter und somit sollte einer von uns beiden immer im Büro präsent sein, aber in diesem Ausnahmefall übernimmt diesen Job mal Laura, denn sie kann ja aus verständlichen Gründen das Büro nur beschwerlich verlassen. Nachdem ich mit dem Opfer geredet habe, kann Timo mich ja dann auch am Landauer Bahnhof absetzen, damit ich Natalie unseren Van nach Waldrohbach bringen kann, um den Dienstwagen wieder in meine Obhut zu nehmen.

      Aber nun geht es zuerst einmal ins Neustadter Klinikum. Dort besuchen wir Herrn Doktor Kleinhardt, der vor zwei Tagen vor seinem Haus überfallen und dann in seinem Flur niedergeschlagen wurde.

      Ein sehr betagter Mann, der sich allerdings aus Eitelkeit die Haare von rechts nach links über die Kopfhaut gekämmt hat. Allzu viel Sinn macht dies allerdings nicht, da seine Tonsur durch das strähnige Haar deutlich zu erkennen ist. Sicherlich hat er sich einer privaten Krankenversicherung angeschlossen, denn er liegt im Seidenpyjama in einem Einzelzimmer.

      „Guten Tag, Herr Doktor“, begrüße ich ihn so, wie es mir meine Mutter beigebracht hat. »Mein Junge«, sagte sie immer, »der Titel steht immer über dem Namen.« Glücklicherweise sagen die meisten Leute »Herr Schlempert« oder einfach »Dieter« zu mir und nicht »Herr Oberkommissar«. Aber ein »Doktor« ist schon ein besonderer Titel und so rede ich den


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