Das Leben ist ungereimt. Wolfgang Wagner
2008
2017
Viele sprechen von einer Wiedergeburt, wenn sie eine schwere Krankheit überstanden oder einen gefährlichen Unfall halbwegs unbeschadet überlebt haben. Er sagte immer ‚zweites Leben‘, das ihm unverdient geschenkt worden war. Seit Monaten würde er in einem Sarg dahinfaulen oder seine Asche in einer Urne ruhen.
Heute wollte er das erste Mal danach – nach dem Unfall – auf das Fahrrad steigen. In der Garage wartete sein neues Pedelec, denn sein altes war beim Unfall, im Gegensatz zu ihm selbst, total zerstört worden.
Er stand vor Eva, um ihr einen Kuss zu geben, da sagte sie: „Was hast du vor?“
Er zeigte auf seinen neuen Fahrradhelm und antwortete: „Wonach sieht es denn aus?“
„Erinnerst du dich, was Doktor Pichhagen gesagt hat?“
„Natürlich.“
„Du darfst ab dem ersten November wieder Fahrrad fahren.“
„Genau. Und heute haben wir den ersten November.“
„Ist das nicht ein bisschen früh?“
„Nein, ich fühle mich fit genug.“
Sie fand, es war zu früh, dass Christian wieder Fahrrad fuhr. Aber in den vielen Jahren mit ihm hatte sie gelernt, ihn so zu nehmen, wie er war. Er hatte immer sein Ding gemacht.
Wenn sie an den zehnten August dachte, wurde ihr jetzt noch schlecht. Der Anruf des Polizisten, die ersten Tage im Krankenhaus, als die Ärzte ihr nichts Genaues sagen konnten. Durch den Sturz hatte er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Zum Glück wachte er nach drei Tagen aus dem Koma auf. Darüber hinaus hatte er eine geprellte Schulter, einen gebrochenen Arm, zwei gebrochene Rippen, die aber die Lunge nicht beeinträchtigten, und zahlreiche Hämatome. Nach der OP des Arms prognostizierten die Ärzte ‚keine bleibenden Schäden‘. In der schweren Zeit hatten ihre Kinder sie sehr unterstützt.
Er ging in die Garage, setzte den Helm auf und holte sein nagelneues Fahrrad heraus. Die ersten fünfhundert Meter waren etwas ungewohnt, aber er fühlte sich wohl, war er doch in der Reha genug Fahrrad gefahren, allerdings auf einem modernen Heimtrainer.
Nach einer Stunde war er vierzehn Kilometer gefahren und schob sein Fahrrad in die Garage. Es sah nicht mehr so neu aus, denn in den letzten Tagen hatte es viel geregnet und im Wald waren viele Pfützen. Er sagte seiner Frau „Hallo“ und sie fragte: „Wie war’s?“
„Toll! Auf den Moment habe ich lange warten müssen.“
„Du bist zu ungeduldig.“
„War ich nicht im Krankenhaus und in der Reha ganz zahm?“
Sie lächelte ihn an.
„Doch, doch! Die Post habe ich dir auf den Schreibtisch gelegt.“
„Danke! Ich werde mich erst noch etwas frisch machen.“
Das Öffnen der Post war für ihn ein kleines Ritual. Er hatte sich eine Pfeife angezündet und nahm den Brieföffner. Seine Frau riss ihre Briefe sofort im Wohnzimmer auf. Zunächst die Werbesendungen und die Spendenaufrufe, dann die Arztrechnung und der letzte schien ein persönlicher Brief zu sein, ohne Absender.
Sehr geehrter Herr Eichenhagen,
Sie erinnern sich sicherlich an mich. Sie waren mein Klassenlehrer und im Sommer habe ich mein Abitur gemacht. Wir waren auch auf Klassenfahrt auf Norderney und Ihre Begleiterin war Frau Schmidt. Sie war damals als Seiteneinsteigerin neu an unserer Schule. In der letzten Nacht hatte ich Kopfschmerzen, habe an Frau Schmidts Tür geklopft und da habe ich Sie beide gesehen.
Ich melde mich wieder bei Ihnen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Nico Abel
PS: Sie waren ein guter Klassenlehrer, kein Scherz!
Er machte in Gedanken die Briefmarke ab und warf sie in den großen Umschlag für Bethel. Warum hatte Nico den Brief geschrieben? Was wollte er? Und was sollte das PS? Er zerriss Umschlag und Brief in kleinste Stücke. Eva musste ihn nicht unbedingt lesen.
Bernard und er waren seit Jahrzehnten gute Freunde. Sie besuchten verschiedene Gymnasien und hatten sich im Tischtennisverein kennengelernt. Nach dem Abitur studierten sie in Köln und Bonn, beide auf Lehramt, aber verschiedene Fächer. Bernard war mehr der Naturwissenschaftler, Biologie und Chemie, während Christian Englisch und Sport unterrichten wollte. Später, nach dem Referendariat, bekamen sie Stellen an verschiedenen Schulen, aber sie hatten sich nie aus den Augen verloren.
Christian freute sich immer auf das Schachspiel mit Bernard, aber sie wussten beide, dass sie eher mittelmäßige Schachspieler waren. Es kam vor, dass sie zwischen zwei Zügen fünf Minuten über Gott und die Welt diskutierten. Sie waren nicht immer derselben Meinung, respektierten aber die des anderen.
Es schellte und Eva öffnete die Tür. Er gab ihr jeweils zwei Küsschen auf die Wangen.
„Hallo, Bernard! Wie geht es dir?“
„Gut, mein Schatz“, flüsterte er. „Und dir?“
„Danke! Christian wartet auf dich im Wohnzimmer.“
Die beiden Freunde begrüßten sich und Christian fragte: „Möchtest du ein Glas Rotwein? Dann kannst du deine Niederlage besser verkraften.“
„Ja, gern. Ich bin heute mit dem Fahrrad gekommen und trinke schon auf meinen späteren Sieg.“
Christian hatte schon einige von Bernards Figuren erobert, als er fragte: „Glaubst du immer noch, dass wir das schaffen, mit den Flüchtlingen?“
Bernard trank einen Schluck Wein.
„Wir können es schaffen, wenn alle mitmachen.“
„Und was sagst du zu den Zehntausenden, manche sagen sogar über vierhunderttausend, die ohne Registrierung in Deutschland herumirren?“
Bernard schwieg, er schien sich auf den nächsten Zug zu konzentrieren.
Von den zwei Partien hatte jeder eine gewonnen. Gegen achtzehn Uhr sagte Bernard: „Ich muss langsam los, Renate wartet auf mich.“
„Schöne