Das Leben ist ungereimt. Wolfgang Wagner
an die Tafel. Als er das Lehrerzimmer fast erreicht hatte, sah er Sabrina schon vor der Tür stehen. Sie sah heute besser aus als am Vortag.
„Hallo, Sabrina!“
„Guten Tag, Herr Eichenhagen!“
„Wir suchen uns jetzt einen freien Klassenraum.“
Der Schulleiter hatte den Kollegen den Rat gegeben, ein Gespräch mit einer Schülerin nie allein zu führen. Das hätte zu Missverständnissen führen können und deshalb ließen einige Kollegen einfach die Tür etwas offen. Sie hatten einen freien Raum erreicht und Christian schloss die Tür hinter Sabrina. Unsinnige Anweisungen waren ihm schnurz.
„Wie fühlst du dich heute?“
Sie lächelte ihn an und sagte: „Danke, gut!“
„Ich habe den Eindruck, dass du manchmal deprimiert bist.“
Sie antwortete zunächst nicht.
„Nur ganz selten, aber mir ist es aufgefallen.“
Wieder gab sie keine Antwort.
„Ist zu Hause alles in Ordnung?“
„Ja, auf jeden Fall.“
„Kümmern sich denn deine Eltern um dich?“
Erneut schwieg sie.
„Sind beide zu Hause, wenn sie nicht arbeiten?“
„Ja, das habe ich doch schon gesagt.“
Irgendwie kam er nicht weiter, kam nicht zu ihr durch. In einer solchen Situation konnte er nicht das Jugendamt einschalten.
„Ich frage geradeheraus: Wirst du manchmal geschlagen?“
Sie errötete.
„Nein, nie. Wie kommen Sie darauf?“
„Hast du Vertrauen zu mir?“
„Ich finde Sie sehr sympathisch.“
„Würdest du dich denn an mich wenden, wenn du ein Problem hättest?“
„Ja, sicher, wenn ich nicht mit meinen Freundinnen darüber sprechen kann.“
„Und hast du eine beste Freundin?“
„Na klar! Marina.“
„Eure Vornamen haben fünf Mal denselben Buchstaben, das muss ja zusammenschweißen.“
Sie lachte laut. Er wusste nicht, wie er weitermachen sollte.
„Sabrina, ich würde sagen, für heute machen wir erst einmal Schluss. Bist du einverstanden?“
Sie blickte ihn an, nahm ihren Rucksack und ging zur Tür.
„Bis morgen, Herr Eichenhagen!“
2017
Eva und Christian hatten längst gefrühstückt, saßen aber noch in der Küche.
„Darf ich reinkommen?“
„Ja, sicher, Ingo!“
Er hatte lange geschlafen, in einem richtigen Bett, und hatte geduscht. Von der Größe her passten ihm Christians Sachen wie angegossen.
„Magst du Kaffee? Oder trinkst du lieber Tee?“
„Bitte Kaffee!“
Es war zu früh, Ingo zu fragen, was in seinem Leben schiefgelaufen war. Er sollte sich erst einmal erholen, zu sich kommen. Ingo aß gierig und hastig, ohne zu schmatzen. Von Zeit zu Zeit blickte er Eva und Christian an, dankbar lächelnd. Die beiden staunten nicht schlecht, was Ingo alles in sich hineinstopfte. Zu den vier Tassen Kaffee aß er fünf Brötchen, die ersten beiden mit Marmelade, die Eva selbst gemacht hatte, die anderen drei mit Käse. Danach machte er eine lange Pause.
„Danke, das tat gut! Wahrscheinlich wollen Sie jetzt meine Lebensgeschichte hören.“
„Immer mal langsam, das hat Zeit.“
„Nein, nein. Ich will es jetzt einmal versuchen, vielleicht erst einmal die Kurzversion. Haben Sie denn Zeit?“
„Die nehmen wir uns.“
„Darius und ich haben zusammen 1997 das Abitur gemacht. Ihr Sohn war ein brillanter Schüler, alle Fächer zwischen vierzehn und elf Punkten. Ich war ein eher schlechter Schüler und habe geradeso das Abitur geschafft.“
„Hast du auch studiert?“
„Mein Vater wollte, dass ich Jura studiere, weil er selbst Justiziar in einer großen Bank ist. Ich wollte ihm zu verstehen geben, dass ein Studium nichts für mich ist, aber er winkte nur enttäuscht ab. Ich habe dann eine Lehre in einer großen Speditionsfirma gemacht.“
„Und hast du die Lehre beendet?“
„Ja, zur Jahrtausendwende. Aber die Firma konnte mich nicht übernehmen.“
„Und dann?“
„Mein Vater sagte nur, er würde mich nur noch drei weitere Monate finanziell unterstützen.“
„Und deine Mutter?“
„Sie ist lieb, zu lieb für meinen Vater. Sie macht alles, was er sagt; sie will keinen Ärger, keinen Streit. Ich habe dann jahrelang einfache Jobs übernommen und in einer WG gewohnt: zwei Männer und zwei Frauen, das hat eigentlich recht gut geklappt.“
„Ingo, bist du mir sehr böse, wenn ich jetzt meinen Massagetermin wahrnehme? Sie tut meinem Rücken immer gut“, fragte Eva.
„Kein Problem, Frau Eichenhagen.“
„Vielleicht kannst du das alles heute Abend fortführen. Ich will auf jeden Fall dabei sein.“
1994
Er hatte Sabrinas Verhalten in den Monaten, die ihrem Gespräch folgten, beobachtet, aber er spürte keine negative Veränderung. Im Gegenteil: Wann immer es möglich war, lächelte sie ihn nach der Unterrichtsstunde an.
Heute war der zweite Tag, dass sie unentschuldigt fehlte.
„Weiß jemand etwas über Sabrina? Ist sie krank?“
Keiner wusste etwas, nur Marina, Sabrinas beste Freundin, schaute weg.
„Marina, Sabrina ist doch deine Freundin, weißt du etwas?“
Sie druckste herum: „Nicht wirklich.“
„Kann ich dich heute nach der sechsten Stunde sprechen?“
„Klar doch.“
Zum Glück hatte er eine Freistunde, so dass er Sabrinas Eltern anrufen konnte. Aber niemand meldete sich. Er sprach auf den AB.
Er war mehr als gespannt auf das Gespräch mit Marina.
„Weißt du etwas? Es ist ernst.“
Sie schaute auf den Boden, sagte nichts.
„Sind Sabrinas Eltern beide berufstätig?“
Dann platzte es aus Marina heraus.
„Sabrinas Mutter ist seit ein paar Jahren in der Psychiatrie. Ich weiß nicht, was sie genau hat.“
„Und ihr Vater? Wo arbeitet er?“
„Er arbeitet auf einer Baustelle. Und er schlägt Sabrina und …“
„Was heißt ‚und‘?“
„Na ja, er ist ein Mann und meint …“
Christian war erschüttert, ließ sich aber seine Wut nicht anmerken.
„Ich bin dir sehr dankbar, Marina.“
Er sah, dass Marina Tränen in den Augen hatte. Er nahm sich vor, am Nachmittag bei Sabrina vorbeizufahren.
Es