Das Leben ist ungereimt. Wolfgang Wagner
mit einem Kuss.
„Was ist los? Du hast Sorgenfalten auf der Stirn.“
„Sorgen ist das richtige Wort.“
„Und?“
„Sabrina, eine Schülerin meiner Klasse, fehlt schon den zweiten Tag unentschuldigt.“
„Das kommt vor.“
„Ich habe mit ihrer Freundin gesprochen. Mit Sabrinas Vater stimmt etwas nicht.“
„Kann es etwas genauer sein?“
Er schwieg und aß die Linsensuppe. Meistens lobte er Evas Kochkünste, doch diesmal blieb das Lob aus.
„Ich trinke noch eine Tasse Kaffee und dann fahre ich zu Sabrinas Wohnung.“
Er hatte sich etwas frisch gemacht und war auf dem Weg zur Steinstraße. Die Nummer fünf war leicht zu finden, denn es war das einzige Gebäude, das fünf oder sechs Etagen hatte. Er schloss sein Fahrrad ab und suchte die Klingel. Die Familie schien in der zweiten Etage zu wohnen. Er schellte mehrmals, aber durch die Sprechanlage hörte er nichts. Er ging vor das Haus und suchte die Wohnungen in der zweiten Etage ab. An einem Fenster glaubte er das Bewegen des Vorhangs sehen zu können. Er schellte erneut. Die Sprechanlage war wohl an, denn er meinte ein Schluchzen hören zu können.
„Sabrina, ich bin’s. Eichenhagen, dein Klassenlehrer.“
„Ich mache Ihnen auf, Sie können den Aufzug benutzen. Zurzeit ist er mal nicht kaputt.“
„Danke! Ich nehme lieber die Treppe.“
Als er die Wohnung betrat, war er erschüttert. Alles war in Unordnung, überall lagen schmutzige Kleidungsstücke und leere Flaschen herum. Er kam auch an einem kleinen Zimmer vorbei, das aufgeräumt war. Wahrscheinlich war das Sabrinas Raum. Sabrina räumte einen Sessel frei und sagte: „Tut mir leid. Sie können sich hier hinsetzen.“
Während sie alles berichtete, musste sie immer wieder weinen.
„Dein Vater hat dich also immer wieder geschlagen und …“, er stockte, „wahrscheinlich hat er dir noch mehr angetan. Ich muss die Polizei holen.“
„Muss das sein?“
„Ich glaube schon. Irgendwann wird dein Vater heimkommen und dann geht’s wieder los.“
Sie suchte ein Taschentuch.
„Wahrscheinlich haben Sie recht. Und wie geht es dann weiter?“
„Ich weiß nicht genau. Aber ich bleibe bei dir, bis alles geregelt ist. Am besten packst du ein paar Sachen.“
Sie war auf dem Weg in ihr aufgeräumtes Zimmer, als er ihr hinterherrief: „Kann ich kurz meine Frau anrufen? Ich will nur sagen, dass es später wird.“
„Bedienen Sie sich, es ist in der Küche.“
2017
Als er abends spät nach Hause kam, war er überrascht. Nichts war aufgeräumt und in der Küche stand noch das Geschirr vom Morgen.
„Petra, wo bist du?“ Nichts. Als er ins Wohnzimmer ging, sprang ihm ein Brief auf dem Glastisch ins Auge. Auf dem Umschlag stand förmlich:
Für Herrn Max Bachmann
Gegen seine Gewohnheit riss er ihn auf und las: Lieber Max, wir sind jetzt mehr als 40 Jahre verheiratet und du gehst Ende Januar nächsten Jahres in den Ruhestand. Über Jahrzehnte habe ich ertragen müssen, dass du alles entscheidest, mich herumkommandierst, mich kontrollierst. Und das Schlimmste ist, dass wir wegen dir zu unserem eigenen Sohn, Ingo, keinen Kontakt mehr haben.
In deinen Augen ist er ein Nichtsnutz.
Ich mache jetzt einen Schlussstrich. Ich habe eine kleine Wohnung angemietet und die meisten Sachen, die ich wirklich brauche, sind schon dort.
Die Klunker, die du mir zum Geburtstag und zu Weihnachten gekauft hast, quasi für dich als Geldanlage, habe ich nicht mitgenommen. Sie bedeuten mir nichts, für mich ist das Schrott.
Ich habe bereits vor ein paar Tagen die Scheidung eingereicht und du wirst bald von meinem Rechtsanwalt hören.
Die wenigen Jahre, die mir noch bleiben, möchte ich gern in Freiheit verbringen, ohne dass mir ein Besserwisser reinredet. Übrigens: Gegen dein Verbot habe ich unseren Sohn gelegentlich getroffen. Es geht ihm nicht gut. Ich werde ihn jetzt verstärkt suchen und ihm helfen.
Gruß, Petra
PS: Zu deiner Verabschiedung werde ich nicht kommen. Sag einfach, ich sei krank!
Wutschnaubend warf er den Brief auf den Teppich. Er konnte nicht verstehen, dass seine Frau ihm das angetan hatte.
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