Gewürze aus dem Alten Rom. Günther Thüry
und nicht um eine halbwegs authentische Rekonstruktion der antiken Realität handelt. Tatsächlich wird denn auch vieles als antike „römische Küche“ bezeichnet und angeboten, was in Wirklichkeit wenig oder nichts damit zu tun hat. Die Gründe dafür sind verschieden: Unkenntnis gehört dazu; ein unbesorgt-unwissenschaftlicher Umgang mit den Fakten und dem Recherchieren; das selbstherrliche Kreieren von Produktvarianten, bei denen das Originalrezept nur als Vorlage für freie „Variationen eines Themas“ gedient hat; und die Verwendung der Bezeichnung „römisch“ aus bloßem Marketinginteresse. Von den Blüten, die dieses Unwesen treibt, sei hier nur das Beispiel eines neueren deutschen Schulbuchs erwähnt, das den Kindern – zur Auflockerung des Geschichtsunterrichts – ein Rezept für einen angeblich römischen Cocktail mit Grapefruitsaft und mit einer am Rand klemmenden Zitronenscheibe empfiehlt. „Dieses würzige Getränk“, heißt es dazu, „durfte bei keiner römischen Abendgesellschaft fehlen“.2 Tatsache ist aber, dass es in Rom weder dieses Getränk gab; noch überhaupt die Grapefruit; noch – soweit uns bekannt ist – Cocktails mit Zitronenscheiben am Rand.
Da also ernsthaftes römisches Kochen bestimmte Kenntnisse voraussetzt und da in so vielen Fällen Ergebnisse angeboten und Behauptungen gewagt werden, die einer Überprüfung nicht standhalten, scheint eine Einführung in Grundlagen der römischen Küche nützlich. Die Mühe, die es machen mag, sich Grundkenntnisse zu erwerben und römische Gerichte möglichst authentisch zuzubereiten, sollte die Freude des Kochens und Essens nicht mindern.
Zu erproben, wie das Ergebnis seriös betriebener küchengeschichtlicher Experimente ausfällt, hat einen Hauch von Abenteuer an sich. Es ist ja faszinierend, dass uns eine große Zahl erhaltener antiker Koch- und Backrezepte in die Lage versetzt, zu schmecken und zugleich zu riechen, was einst die Römer gerochen und geschmeckt haben. Die Erzeugnisse ihrer Köche und Bäcker waren zwar (von nicht mehr genießbaren Speisefunden abgesehen) Augenblicksgebilde; wir können sie aber durch Befolgen der Rezepte wieder zum Leben erwecken.
Diese Wiederbelebung der römischen Küche ist nicht nur historisch interessant. Sie lohnt die Mühe auch kulinarisch. Allerdings: die Küche, die wir so kennenlernen, wirkt entschieden fremd auf uns. Aber Interesse an kulinarischer Exotik liegt ja im Trend der Zeit; und die Erkenntnis der Fremdheit bedeutet eine gar nicht unwichtige Erfahrung. Gewiss ist sich der Kenner der Geschichte manchmal viel zu sicher, „seine“ Antike gut zu kennen. Wir sollten uns hier dankbar verunsichern lassen und besser in den Blick bekommen, dass uns das Altertum nicht nur sehr nah, sondern zugleich doch auch sehr fremd ist.
Wenn wir uns auf die römische Küche einlassen wollen, dann müssen wir sie also in ihrer Fremdartigkeit akzeptieren und dürfen nicht etwa beginnen – wie das manche tun – aus den erhaltenen Rezepten die uns exotisch scheinenden Details zu streichen oder ungewohnte Zutaten durch gewohnte zu ersetzen. Das Ergebnis dieser Zensur wären angeblich antike, aber ihres wahren Charakters beraubte Gerichte.
RÖMISCHE KÜCHE: EIN LOHNENDES THEMA?
Alexis Soyer (Abb. 2), einer der renommiertesten Köche seiner Zeit, hat 1853 ein umfangreiches und bis heute interessantes Buch über antike Ernährung veröffentlicht. Er leitet es mit den Sätzen ein: „Dank der Eindrücke, die wir als Schuljungen gewinnen, präsentieren sich Rom und Athen unserer Vorstellung stets unter Waffenlärm, Siegesgebrüll oder dem Geschrei von Plebejern, die den Volkstribunen umdrängen ... Doch – schließlich können weder Heroen noch Soldaten noch das Volk stets nur auf dem Kriegspfad sein; sie können nicht ständig den Dolch gezogen haben wegen irgendeiner Open-air-Wahl; der Applaus für einen geschickten und mutigen Tierkampf währt nicht ewig; Gefangene mag man, zum Vergnügen, in der Arena erstechen, doch nur eine Weile lang. Davon unabhängig gibt es noch das Heim, die Häuslichkeit, die Prosa des Lebens, wenn Sie so wollen; nein, lassen Sie uns gleich sagen: es gibt auch die Beschäftigung damit, sich am Leben zu erhalten – also die Beschäftigung mit Essen und Trinken.“ 3
Kein Zweifel, dass Soyers Plädoyer für ein nicht zu einseitiges Bild der Vergangenheit berechtigt ist. Kein Zweifel freilich auch, dass sich die Einseitigkeit, die er angreift, nicht allein dadurch beheben ließe, dass man den Themenkatalog historischer Betrachtung um den Gegenstand der Ernährungsgeschichte erweitert. Das häusliche Leben einer Zeit (Soyers Prosa des Lebens) lässt sich ja nicht nur auf Essen und Trinken reduzieren; vieles Weitere, wie etwa Wohnung oder Kleidung, aber auch Liebe oder Kindererziehung kommt hinzu. Andere Seiten der Vergangenheit gehören dagegen weder speziell in die Kategorie des öffentlichen noch in die des privaten Lebens; so zum Beispiel der Stoff der Mentalitäts-, der Religions- oder der Kunstgeschichte.
Alle solchen Teilfelder der historischen Betrachtung sind in gleicher Weise wichtig. Wollen wir einer wirklichen Kenntnis der Menschen und der Lebensbedingungen der Vergangenheit näherkommen, darf kein Teilgebiet vernachlässigt werden. Wir brauchen eine möglichst kompromisslose Erfassung aller nur recherchierbaren Informationen.4 Sie ist nicht nur um dieser Details willen nötig, sondern schon deshalb, damit wir die Aussage der erhaltenen Quellen (wie beispielsweise den Gedankengang eines antiken Dichters) verstehen können. Wir brauchen ein uneingeschränktes Blickfeld aber auch deshalb, weil die Phänomene der verschiedenen Teilgebiete der Geschichte mit vielerlei Fäden und oft zunächst kaum sichtbaren Verbindungen miteinander verknüpft sind. So lässt sich kein historisches Thema isoliert betrachten.
Abb. 2 Alexis Soyer (1810–1858). Frontispiz seines Buches Pantropheon (London 1853).
Um das aber mit einem Beispiel aus der Ernährungsgeschichte zu illustrieren: Dass im ältesten Rom allgemein Brei, aber in der gehobenen Küche der Spätzeit gelegentlich Papageien mit Dattelsauce gegessen wurden, hat seine Gründe im Verlauf der politischen Geschichte.5 Sie ließ aus der bescheidenen Bauernsiedlung, die Rom einst war, ein Weltreich mit einer Oberschicht hervorgehen, die sich auch Luxus leisten konnte und wollte. Oder noch ein zweites Beispiel: Aus hauptsächlich geistesgeschichtlichen Zusammenhängen erklärt sich das Phänomen, dass die entwickelte römische Küchenkultur auf die heftige Opposition von Moralisten stieß, die das Ideal eines möglichst anspruchslosen Lebens predigten. In ihren Augen gehörten schon gekühlte Getränke oder Spargelzucht zu den Verirrungen einer dekadenten Zeit.6 Ein gerechtes Urteil über die römische Küche kann man von ihnen also nicht erwarten. Tatsächlich warfen ihr diese Zeit- und Gesellschaftskritiker eine bereits exzesshafte kulinarische Raffinesse vor – was trotz der erwähnten Papageien in Dattelsauce keine zutreffende Charakteristik war.
Die Übertreibungen dieser antiken Moralisten hat die frühere altertumswissenschaftliche Forschung für bare Münze genommen. Inzwischen hat sie den Fehler zwar längst erkannt. Aber der Glaube an die unübertrefflichen römischen Orgien ist zum vermeintlichen Bildungsgut geworden – zu einem Klischee, das geradezu unverwüstlich scheint. Bis heute halten ja die Medien und die Werbestrategen mancher Museen daran fest, dass – wie es vor Jahren in einer Küchenzeitschrift hieß – „römische Orgien die besten“ gewesen seien.7 Was solche Äußerungen inspiriert, ist freilich nicht historische Erkenntnis oder moralische Entrüstung, sondern die Hoffnung auf die Orgie als Publikumsmagneten.
Die Kritik römischer Intellektueller an Konsumdenken und kulinarischer Genusssucht ist aber – bei aller Übertreibung in der Diagnose damaliger Zustände – ein zeitloser Beitrag zur Frage, wie man ein Leben gestalten soll. Sie passt insofern noch auf unser eigenes Jahrhundert. Überhaupt ist es ja so, dass die Intellektuellen der Antike – wenn wir gewissermaßen anhören, was sie uns in ihren Büchern zu sagen haben und dabei auch entsprechend mitdenken – einen Dialog über die Fragen des Lebens mit uns führen. Darin liegt ein Teil der Bedeutung, die das Altertum für uns hat.
Beim Thema des Kochens wird der Nutzen der Beschäftigung mit der Antike freilich – sozusagen – ganz handfest; denn hier haben sich viele Anregungen erhalten, die sich in kulinarische Freude umsetzen lassen.
Abb. 3 Römische Küche in Augusta Raurica-Augst (Kanton Baselland). Rekonstruktion Elisabeth Schmid.
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