Die chinesische Dame. Gerhard J. Rekel
Funktion Sonja ihn begleitete, doch er sagte nichts.
Indes bemerkte Sonja im Besucherbereich eine Vitrine – darin Filzprodukte: Hüte, Teddybären und Modellpuppen mit Lodenmänteln. Darunter stand in rot-weiß-roten Lettern: Seit fünf Jahrzehnten Qualität aus Österreich.
Über der Vitrine hing hinter Glas der Artikel einer renommierten Wirtschaftszeitung. Eine Fotostrecke zeigte den Patriarchen stolz in seinem holzvertäfelten Büro. Sonja überflog ein Interview: Ich führe zweimal wöchentlich Krieg, erzählte Alfred Selikowsky. Dann schlage ich Teddybären ins Gesicht, zerre an ihren Knöpfen, versenke Filzhüte im Wasser und grille sie unter UV-Licht! Ich schütte Rotwein auf Hüte und kokle mit meinem Feuerzug die Ärmel von Lodenmänteln an. Nur wenn unsere Produkte alles schadlos überstehen, genehmige ich persönlich die Auslieferung. Deshalb ist in unserer Firma eine Tradition besonders wichtig: Seit Jahrzehnten produzieren wir ausschließlich in Österreich! Das erst ermöglicht uns die lückenlose Kontrolle! Danach wetterte der Patriarch gegen die asiatische Billigkonkurrenz.
Als Sonja merkte, wie Christian sie beim Lesen beobachtete, witzelte sie: „Was für ein patriotischer Österreicher, dein Herr Papa.“ Für einen Moment glaubte sie, in Christians Gesicht einen Hauch von Stolz zu erkennen, doch sie war nicht ganz sicher.
Abrupt wurde die Tür neben Vaters Büro aufgerissen. Ein Mann im dunkelblauen Zweireiher kam auf die beiden zu; er sah Christian ähnlich, war aber korpulenter und einige Jahre älter. Rasch knöpfte er sein elegantes Jackett zu, das seinen Schmerbauch verdeckte. Der feine Zwirn, die sparsame Mimik und eine rahmenlose Kunststoffbrille deuteten darauf hin, dass dem Mann eine mondäne Wirkung wichtig war.
„Hallo Brüderchen!“
„Hallo Lutz.“
Christians Bruder hielt ein Smartphone in der Hand; er hatte es ständig im Blick, als würde er auf eine dringende Nachricht warten.
„Na, wirst du diesmal Papa dein Werbekatalogerl persönlich präsentieren? Nix Videokonferenzerl, wie sonst immer?“ Lutz’ Verkleinerungsformen nervten Christian. Er hatte sich vorgenommen, jeden Streit zu vermeiden und mit Lutz nur das Nötigste zu bereden. Christians Werbeabteilung in Wien war unterbesetzt, aber vermutlich würde der Junior-Direktor – wie sich Lutz gerne nannte – dafür kein Verständnis aufbringen. „Reiß dir einfach mehr dein Arscherl auf, Brüderchen, wir sind nicht auf der Uni!“, war seine Lieblingsantwort. Ein oft benützter Seitenhieb, denn Christian durfte sechs Jahre Architektur studieren, während Lutz nur eine dreijährige Handelsschule absolviert hatte und in Innsbruck die Stellung halten musste. Dass Christian seit über fünf Jahren vergeblich einen Job als Architekt suchte und keine einzige Bauausschreibung gewann, war ein Joker in einem Bruderkampf, der Christian immer wieder verletzte. Vater erfand schließlich für Christian die Werbeabteilung in Wien, „um die Familie zusammenzuhalten und weil der Christian ja so ein Kreativer ist, da kann er sich mit den Katalogen austoben“. Lutz war nicht begeistert, aber er fügte sich dem Patriarchen. Wie fast immer.
Lutz’ Blick fiel auf Sonja: „Und die hübsche Dame ist deine neue Praktikantin?“ Er streckte ihr die Hand hin.
Bevor Christian antworten konnte, sagte Sonja schnell: „Wir sind verlobt.“ Sie schüttelte Lutz die Hand.
„Ach, du willst heiraten?“
„In drei Wochen“, präzisierte Christian.
Lutz fixierte seinen Bruder: „Schön, dass die Familie auch davon erfährt!“
„Deshalb sind wir ja hier!“
„Herzlichen Glückwunsch. Mama und Papa werden sich bestimmt freuen!“ Lutz lächelte erst Christian zynisch, dann Sonja charmant an. Schließlich wandte er sich zu Christian: „Und ich freu mich auf dein Katalogerl. Wart schon seit zehn Tagen drauf!“ Das war eine Lüge, denn Lutz kümmerte sich nie um die Werbung, die Information hatte er von Frau Armbrust und er ließ keine Gelegenheit aus, Christian runterzumachen.
„Dann darf ich deiner Liebsten ja mal das Werk zeigen“, setze Lutz nach, „damit die zukünftigte Frau Selikowsky selbst sieht, auf welchen Club sie sich da einlässt.“ Grinsend verbeugte er sich vor Sonja und bat sie, ihm zu folgen. Im Rausgehen raunte er gerade so laut, dass es Christian noch hören konnte: „Und wovon mein lieber Herr Bruder sein schickes Wiener Penthouserl bezahlt!“
Christian fühlte eine Mauer zwischen sich und seinem Bruder. Obwohl sich Lutz immer gerne cool gab, hegte Christian den Verdacht, als stünde er permanent unter Spannung, was auch seine leicht geröteten Wangen bestätigten. Fast ein Jahr hatte er Lutz nicht mehr gesehen und nun fiel ihm auf, wie stark sein Bruder zugenommen hatte: Ein Doppelkinn hatte sich herausgebildet, seine Wangen waren fleischig geworden und ein leichter Stiernacken hob sich ab. Einen Moment überlegte Christian, analog seines Ehrlichkeitsversprechens, Lutz zu sagen, wie fett er geworden war. Doch sofort wurde ihm klar: Absolute Ehrlichkeit ist immer an der Grenze zur Einfältigkeit. Vor allem, wenn man Leute damit konfrontiert, wie dumm oder hässlich sie sind. Er sollte Lutz besser mal fragen, was mit ihm los war, wie es ihm wirklich ginge.
Christian musste sein Versprechen präzisieren: Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten konnte nicht bedeuten, in jedem Moment zu sagen, was man denkt – nicht die absolute Wahrheit oder die absolute Ehrlichkeit waren seine Ziele, sondern Wahrhaftigkeit. Er musste einen wahrhaftigen Zugang zu sich selbst und anderen finden, fern von gesellschaftlichen Erwartungen und Fremdbestimmung. Nur dann ergab sein Versprechen Sinn.
Als Christian an das Fenster trat, beobachtete er, wie Sonja mit seinem Bruder über den Hof schlenderte. Im Gehen fingerte Lutz mit der einen Hand an seinem Smartphone herum, die andere deutete mit großer Geste zu den Fabrikhallen. Mit stämmigen Schritten folgte Sonja in ihrem grünen Lack-Anorak seinem Bruder. Sie drehte sich um, sah einen Moment zu Christian hoch, dann forderte Lutz ihre Aufmerksamkeit.
Ein leiser Summton unterbrach die Stille im Büro. Frau Armbrust sprang auf und verschwand in Vaters Arbeitszimmer. Zurück kam sie mit einer chinesische Dame im schwarzen Businesskostüm. Christian versuchte ihr Alter zu schätzen: Ende Zwanzig. Nein, Fünfundreißig. Vielleicht sogar Vierzig. Ein zeitlos schönes Gesicht, eingerahmt von schwarzen, halblangen Haaren. Braune Augen, der Mund fein geschnitten, ihre Lippen dunkelrot, die Nase vielleicht eine Spur zu klein, doch sie hatte eine solch anmutige Form, dass die Kleinheit den Reiz nur verstärkte. Über ihrer Schulter hing eine Notebooktasche. Frau Armbrust reichte ihr vom Kleiderständer einen schwarzen Wollmantel. Dankend lächelte die Dame. Doch es war nicht dieses naiv-kindliche Lächeln, das Christian von vielen Chinesinnen kannte. Sie lächelte anders: dezent, selbstbewusst, kühl.
Er wartete, ob sie zu ihm sah. Doch sie schien ihn nicht bemerkt zu haben.
Sie griff zu ihrem Smartphone und wählte eine Nummer: „Guten Tag. Können Sie mich bitte mit der South-China-Bank in Frankfurt verbinden … danke.“
Christian war beeindruckt von ihrem akzentfreien Deutsch. Er gab vor, in seinem Katalog zu lesen. Bis er sie neuerlich hörte.
„Hello, … speaking.“ Ihren Namen konnte er nicht verstehen. „May I talk to Doctor Wang Chen, please. He’s waiting for my call.“
Bestes Oxford-Englisch. Seltsamerweise hatte Christian das Gefühl, diese Frau zu kennen. Woher bloß? Schließlich hörte er sie ins Smartphone Chinesisch sprechen. Nach einigen Sätzen sprach sie schneller, ihr Ausdruck veränderte sich; für eine Sekunde glaubte Christian, unter ihrer harten Oberfläche etwas Warmes, Zerbrechliches zu erkennen, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
Frau Armbrust langte nach ihrem Lodenmantel: „Ich bring unseren Gast ins Hotel – und mach dann Feierabend. Ihr Vater hat gebeten, dass Sie ihn noch fertig telefonieren lassen. Ein dringendes Gespräch! Er kommt dann selbst raus, nicht wahr?“
Ob es wahr ist, musste sie doch selbst wissen, durchfuhr es Christian. Diese in Tirol weitverbreitete Floskel kam ihm angesichts seines Versprechens völlig absurd vor.
Frau Armbrust führte die chinesische Dame zur Tür, drehte sich noch mal zu Christian. In der Eile verfiel sie in Dialekt: „Der