Die chinesische Dame. Gerhard J. Rekel

Die chinesische Dame - Gerhard J. Rekel


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Tränen versiegten, einen Moment zögerte sie, dann widerstand sie seinem Blick: „Ja, wir haben uns gut verstanden, nicht wahr. Er hat mich oft auf Geschäftsreisen mitgenommen. Doch vor etwa einem Jahr haben wir uns privat getrennt. Ich habe seither einen neuen Lebenspartner und meine Beziehung zu Ihrem Vater war nur noch professioneller Natur. Früher habe ich mich auch um seine Medikamente gekümmert, das stimmt, doch seit einem Jahr hat das Herr Selikowsky wieder selbst getan!“

      „Er hatte doch immer seine Medikamente dabei, oder?“

      „Ja, in seiner Schreibtischlade. Aber die hat er versperrt, die war für alle tabu!“

      „Hatten Sie einen Schlüssel dafür?“

      „Nein.“

      „Was wollte denn die Chinesin von Vater?“

      „Irgendwelche Geschäfte. Herr Selikowsky mochte mit niemandem darüber reden. Auch mit mir nicht.“

      „Wie haben sich die Besuche auf Vater ausgewirkt? Ist Ihnen da eine Veränderung aufgefallen?“

      Sie machte eine indifferente Kopfbewegung.

      „Mir ist, als hätte ich die Dame schon mal wo gesehen … aber wo?“ Frau Armbrust wich seinem Blick aus: „Da kann ich Ihnen leider nicht helfen.“

      „Was mich verwundert: Warum spricht die Chinesin fast perfekt Deutsch?“

      „Habe ich sie auch gefragt. Sie hat zwei Jahre in Hannover studiert.“

      „Und wo ist sie jetzt?“

      „Im Hotel Tirolerhof. Da habe ich sie jedenfalls hingebracht.“ „Wie oft hat sie Vater schon besucht?“

      „Vielleicht zwei-, dreimal.“ Frau Armbrust kämpfte neuerlich gegen Tränen.

      „Glauben Sie, dass die chinesische Dame etwas mit Vaters Tod zu tun hat?“

      Sie zuckte die Schultern und verlor ihren Kampf. Christian reichte ihr ein Taschentuch.

      ˘ ˘ ˘

      Das Rot des Sonnenuntergangs spiegelte sich im Schellack der dunklen Wandvertäfelung. Christian setzte sich an den Schreibtisch von Vater und versuchte, seine schwere Holzschublade zu öffnen. Versperrt.

      „Ich fühl mich hier nicht wohl. Lass uns bitte gehen“, sagte Sonja. Sie lehnte an der Tür und kramte in ihren Taschen. Christians Blick fiel auf die Teetassen, aus denen offensichtlich Vater und seine chinesische Besucherin getrunken hatten. Der Teller, auf dem zuvor die chinesischen Glückskekse gelegen hatten, war leer. Nur ein paar Krümel befanden sich noch darauf. Hatte die Kekse jemand aufgegessen? Oder etwa verschwinden lassen?

      Mit aller Kraft zog Christian noch mal an der Schublade. Sie bewegte sich nicht. Keinen Millimeter.

      „Was willst du noch hier?“, fragte Sonja und entdeckte in ihrer Anoraktasche eine Packung Schokopastillen.

      „Ich suche einen Schlüssel: groß, plump, Messing!“

      „Groß, plump, Messing“, wiederholte Sonja und half suchen, doch sie fanden den Schlüssel nicht. Die Pastillen kauend wandte sich Sonja zur Tür und wollte gehen. Er spürte: Es wäre jetzt angenehmer, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber er musste immer wieder an sein Versprechen denken, an seine Albtraumserie, die vielleicht nur eine Warnung gewesen war, ein Schuss vor den Bug. Sollte er die Lade aufbrechen? Oder die Polizei bitten, sie zu öffnen? So wie Weirather ihn zuvor behandelt hatte, würde der alte Bulle die Angelegenheit nur neuerlich mit ein paar beschönigenden Sätzen abtun. Erst wenn Christian einen handfesten Beweis hatte, dass mit Vaters Tod etwas nicht stimmte, konnte er mit polizeilicher Hilfe rechnen.

      Er schob die Teetassen zur Seite, griff zu einem schweren Bronze-Brieföffner und brach die Tischlade mit Gewalt auf. Darin eine Packung Betablocker und eine Schachtel ACE-Hemmer. Christian öffnete beide – in jeder waren noch Blister mit einigen Pillen. Er war verblüfft: Vater hatte also ausreichend Medizin gehabt! Hatte ihn jemand daran gehindert, sie einzunehmen?

      Christian verschloss die Packungen und schob sie zurück. Daneben lag Vaters Pass. Und ein abgegriffenes Sachbuch über das Schanghai der 1940iger Jahre. An einige Seiten hatte jemand kleine, gelbe Haftnotizen geklebt. Auf jeder erkannte Christian die Schrift des Vaters: A7, J2, L5. Möglicherweise Quadrantenzahlen, die Orten auf dem Stadtplan von Schanghai entsprachen. Was wollte Vater damit?

      Nun wurde Sonja doch neugierig und kam näher. Christian war das plötzlich unangenehm: „Wo bist du eigentlich mit Lutz gewesen?“

      „Er hat mir die Werksgebäude erklärt.“

      „So lange?“

      Sie schüttelte den Kopf, öffnete ihr Haar und steckte sich eine weitere Schokopastille in den Mund: „Einen Stock tiefer hat er mir ein Video über die Firmengeschichte gezeigt.“ „War er die ganze Zeit dabei?“

      „Die ersten paar Minuten. Warum fragst du?“

      Christian antwortete nicht. Er musste an das komische Geräusch aus dem Büro von Lutz denken und an die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern – die Idee, sein Bruder könnte etwas mit Vaters Tod zu tun haben, schreckte ihn. Aber noch wichtiger erschien ihm jetzt, Gewissheit zu erlangen – was war tatsächlich passiert?

      Die Sonne ging unter, das dunkle Holz der Wände fraß die letzten Lichtstrahlen. Er schaltete die Schreibtischlampe an. Im hinteren Teil der Lade fand Christian Unterlagen zu einem chinesischen Sprachkurs für Fortgeschrittene, ein chinesisch-deutsches Wörterbuch sowie zahlreiche Restaurant- und Hotelrechnungen aus Schanghai – ausgestellt auf Alfred Selikowsky. Vater hatte also Schanghai im letzten Jahr besucht. Mehrmals. Christian fragte sich, wer aller davon wusste. War Vater nur bei ihm so schweigsam, weil er für Vater immer als schwarzes Schaf gegolten hatte und wegen seiner künstlerischen Ambitionen von allen belächelt wurde? Nie mehr würde er mit Vater darüber reden können. Christian kämpfte gegen Tränen.

      „Und dann?“, fragte er Sonja.

      „Ist Lutz gegangen. Er hat gesagt, er muss noch dringend telefonieren … wegen irgendeines Golfturniers.“

      Nur zu gut hatte Christian miterlebt, wie sehr Lutz die Veranstaltungen des Tiroler Geldadels liebte; er ließ sich gerne auf Charity-Events blicken und versuchte auf Golfturnieren im Schatten der Alpen zu glänzen. Ein paarmal hatte ihn Lutz zu solchen Veranstaltungen mitgeschleppt, doch Christian fühlte sich in dem geltungssüchtigen Umfeld nie wohl.

      „Und er kam nicht zurück, bis der Notarztwagen aufgetaucht ist?“

      Sie nickte und steckte ihre Haare wieder hoch. Unter den Teetassen entdeckte Christian das Kuvert einer Innsbrucker Reiseagentur; er schob Tassen und Keksteller zur Seite und öffnete es. „Lass uns jetzt endlich gehen, bitte!“, flehte Sonja und schritt zur Tür.

      „Gleich.“

      Christian zog aus dem Kuvert ein Flugticket. Ausgestellt auf Vaters Namen. Abflug in drei Tagen. Flugziel: Schanghai.

      ˘ ˘ ˘

      Das Licht des Vollmondes erhellte die Straße. Christian bat den Taxifahrer, das Hotel Tirolerhof anzusteuern. Erst danach wollte er mit Sonja zum Haus seiner Eltern gebracht werden. Der Tirolerhof war ein kleines, aber nobles Hotel. Vielleicht 20 Zimmer.

      An der Rezeption fragte er nach der chinesischen Dame. Abgereist. Vor drei Stunden. Wohin, konnte oder wollte ihm die Frau an der Rezeption nicht sagen. Sie erinnerte sich nur, dass die Chinesin von einer Mitarbeiterin der Firma Selikowsky begleitet wurde, die auch die Rechnung beglichen hatte – vermutlich Frau Armbrust.

      Christian ging zurück zum Taxi. Warum war die chinesische Besucherin so schnell verschwunden? Oder war es normal, dass Geschäftspartner noch am selben Abend nach China zurückreisen?

      Mit Sonja erreichte er kurz darauf das zweistöckige Bauernhaus seiner Eltern, idyllisch gelegen an einem Hang des Patscherkofels. Wuchtige Mauern, tiefe Fensterfluchten, großzügige Holzbalkone und ein mit Schindeln gedecktes Satteldach verrieten Wohlstand. Christians Vater hatte


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