Die chinesische Dame. Gerhard J. Rekel
Leiche zur Seite, warf beinahe eine Teeschale und einen Teller mit chinesischen Glückskeksen um und setzte sich auf Vaters Stuhl. Er gab vor, zusammenzubrechen, ließ sich vom Sessel fallen, streifte mit dem Schädel vorsichtig an der scharfen Regalkante an und sah erwartungsvoll zum Notarzt: „So war’sch doch, Herr Dokta, nit wahr?“
Der Arzt untersuchte ein zweites Mal die Wunde an der Schläfe. „Auf jeden Fall ziemlich oberflächlich.“ Er zupfte mit einer Pinzette an der Blutkruste und nickte: „Sehr unwahrscheinlich, dass die Abschürfung letal war.“
Weirather zückte sein Handy und erstattete Meldung bei seinem Vorgesetzten; für ihn schien der Fall erledigt.
Sprachlos stand Christian am Fenster. Er verstand Vaters Tod nicht. Überhaupt nicht. Da bemerkte er in der dunklen Holzvertäfelung eine Tür, Christian hatte sie noch nie zuvor bewusst wahrgenommen. Er drückte die Klinke runter. Unversperrt. Sie führte ins Büro des Vice. Christian sah sich im Zimmer von Lutz um: Sein Bruder hatte sich eine neue Ausstattung gegönnt. Glas und Metall. Alles vom Feinsten. Was Christian allerdings erstaunte: In Lutz’ Büro gab es drei Türen; eine zum Empfangsraum, eine zu Vaters Büro, eine direkt zum Flur, von dem Christian nun unbemerkt ins Treppenhaus gelangte.
Vorhin, beim Warten auf Vater, hatte Christian Geräusche aus dem Büro von Lutz gehört: Hatte jemand Lutz’ Zimmer als Durchgang zu Vaters Büro benützt und war auf diese Weise unbemerkt zu Alfred gelangt?
Bevor Christian darüber nachdenken konnte, hörte er aus dem Flur ein Schluchzen. Seine Mutter! Er ging auf sie zu. In der einen Hand hielt sie ein gehäkeltes Stofftaschentuch, in der anderen einen Stock. Lutz stützte sie. Die kleine Frau hatte nach ihrem fünfzigsten Geburtstag jedes Jahr ein Kilo zugelegt, was von ihrem schweren, grünen Lodenmantel ein wenig kaschiert wurde. Sie trug ein rosafarbenes Dirndlkleid, ihre weißen Haare hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt. Wie ein Schutzschild schirmte eine Hornbrille mit dicken Gläsern ihre Augen ab.
Als sie einen Schritt in Vaters Büro machte, verstummten alle. Niemand wollte etwas Falsches sagen. Schließlich wandte sich Mutter mit heiserer Stimme zum Notarzt: „Des kann do nit sein … vor zwei Stunden hat mich Alfred no angrufen … hat gsagt, dass er sich nit wohl fühlt … sein Puls war so niedrig … ich hab ihn gfragt, ob er auch all seine Medikamente gnommen hat …“
„Und?“ fragte der Arzt.
„Er hat ja gesagt.“ Die blasse Frau zitterte. „Angfleht hab ich ihn, dass er sofort den Arzt holn soll, wenn’s ihm nit glei besser geht.“ Ihr Schluchzen wurde heftiger. „Warum hat er’s nit tan? Warum?“
Christian beobachtete, wie Mutter ihren Kopf an Lutz’ Schulter lehnte, seine Hand umklammerte. Lutz hatte immer das bessere Verhältnis zu ihr. Vielleicht weil er auf den ersten Blick verletzlicher wirkte. Schon in der Schule hatte sich Lutz schwerer getan. Um eine Seite Vokabeln zu lernen, musste Christian das Blatt nur dreimal durchlesen, während sich sein älterer Bruder stundenlang abmühte. Lutz quälte sich von einem Jahrgang zum nächsten, erhielt jedes Jahr Abmahnungen und musste eine Klasse wiederholen. Oft traf ihn die Wut des Vaters: „Schau dir doch den Christian an, der kann’s ja auch!“
„Aber der ist doch …“, hatte Lutz zu protestieren versucht.
„Musst dich halt mehr anstrengen!“
Dann heulte Lutz, Mutter tröstete ihn und versuchte zu vermitteln; sie wollte Lutz vor der bösen Welt und den Ansprüchen ihres Ehemannes schützen. Doch Vater ließ keinen Zweifel aufkommen: Der intelligentere Sohn sollte die Firma übernehmen. Lutz war für ihn bloß ein guter Handwerker, höchstens Buchhalter. Worunter Lutz elendig gelitten hatte. Erst als Christian sich entschieden hatte, in Wien Architektur zu studieren, und Lutz in Innsbruck die Handelsschule absolvierte, änderte Vater seine Haltung. Widerwillig nahm er zur Kenntnis, dass Lutz vielleicht nicht der bessere, aber sicherlich der reibungslosere Nachfolger war. Seitdem entwickelte Lutz noch mehr Ehrgeiz. Mutter aber fühlte sich in ihrem ausgleichenden Verhalten bestätigt, sie hatte ihre Liebe richtig investiert.
Der Arzt wandte sich zu Christian, nahm ihn zur Seite und flüsterte: „Hatte Ihr Vater schon einmal einen Infarkt?“
Christian nickte.
„Wenn er seine Blutdruck senkenden Medikamente nicht pünktlich oder in ausreichender Menge genommen hat, wäre das eine Erklärung für den neuerlichen Infarkt.“
„Siehscht Krischtian“, versuchte Weirather zu kalmieren, „isch alles mit natürlichen Dingen zuagangen.“
Christian fühlte sich unwohl, es entsprach nicht seinem Naturell, unbequeme Fragen zu stellen. Doch er dachte an sein Versprechen, ging neben Alfreds Kopf in die Hocke und zeigte auf Vaters Wange: zarte Spuren eines roten Streifens. „Und das?“
Keuchend beugte sich Weirather zu ihm: „Bluat … vielleicht, von da Schläfn.“
Mit dem Zeigefinger tippte Christian auf Vaters Wange und verschmierte ein wenig Rot: „Eher Lippenstift!“
„Wenscht Zweifel hascht, bitte … dokumentier ich’s halt!“, erwiderte Weirather. Er zückte eine Digitalkamera und fotografierte den Toten von allen Seiten.
Aufgewühlt schaute sich Christian im Raum um: „Wo sind denn überhaupt Vaters Herzmedikamente?“
Der Arzt, Lutz und Christian suchten Tisch, Regal und Boden ab. Vergeblich. Christian betrachtete die beiden Teetassen auf dem Schreibtisch: Nur in der von Vaters Besucherin befand sich noch ein wenig grüner Tee. Und am oberen Tassenrand entdeckte er zarte Reste eines Lippenstifts. Dasselbe Rot wie auf Vaters Wange. Kaum war Weirather mit dem Fotografieren fertig, nickte der Notarzt zwei Männern in schwarzen Anzügen zu, die schon an der Tür warteten. Sie hoben die Leiche in einen blechernen Sarg. Als die Bestatter den Toten aus dem Büro trugen, wurde Christian bewusst, dass er die wachen Augen seines Vaters nie wieder sehen würde. Nie mehr seine tiefe Stimme hören. Nie mehr seinen Zorn erleben. Nie mehr sich über sein versöhnliches Schmunzeln freuen. Nie mehr sein Lachen erleben. Nie mehr.
Der Arzt, Lutz und Mutter waren den Bestattern gefolgt. Christian fiel auf, wie merkwürdig aufgeräumt Vaters Büro aussah, plötzlich kam ein bizarres Gefühl in ihm hoch: Er hatte den Eindruck, Vater hatte es eilig gehabt – als wäre alles Weitere für ihn nur noch Bürde gewesen, als wollte er nur schnell weg, irgendwohin.
˘ ˘ ˘
Die Familie stand im Hof und beobachtete, wie die Bestatter den Sarg in den schwarzen Combi schoben. Christian roch den Schweiß der Männer, hörte das Quietschen des Metallsargs auf den Schienen der Ladefläche, das Zuklappen der Wagentür, das Starten, vorbei.
Die Mutter hielt sich an Lutz fest und ließ sich von ihm zu seinem Volvo führen. Christian zückte sein Handy, wollte ein Taxi rufen, da sah er vor dem Tor des Firmengeländes einen blauen Polo mit einer Person am Steuer. Er bat Sonja, im Empfangsraum zu warten. Rasch ging er auf den Polo zu. Er klopfte an der Beifahrertür und setzte sich zu Frau Armbrust. Mit Tränen in den Augen starrte sie dem Leichenwagen hinterher. Christian musterte sie fragend.
„Lutz hat mich angerufen und es mir gesagt“, rang sie um Worte, „aber ich hab’s nicht geschafft, ins Büro zu gehen … konnte einfach nicht! Wir haben über 30 Jahre zusammen gearbeitet … warum muss das gerade ihm passieren?“ Sie trocknete die Tränen mit einem Stofftuch, es war durchnässt. „Ich hätte nicht Feierabend machen dürfen … bevor ich gegangen bin, hab ich ihn gefragt, ob er noch was braucht … aber er hat mich nur gebeten, die chinesische Besucherin ins Hotel zu fahren. Er wollte nicht, dass ich noch mal zurückkomme, nicht wahr!“
Warum sagt sie diese Floskel, fragte sich Christian und setzte nach: „Frau Armbrust, ich war schon immer beeindruckt, wie fürsorglich Sie Vater betreut haben. Er hat mir ein paarmal stolz erzählt, dass er mit Ihnen die beste Assistentin der Welt hat …“
Der Hauch eines Lächelns huschte über ihr Gesicht.
„… die ihn sogar auf das Einnehmen seiner Herz-Medikamente aufmerksam macht.“
Verunsichert schaute sie zu Christian – und wieder weg.